Obsessive Liebesgeschichte und soziale Tragikomödie

29.08.2012
Das neue Werk von A.L. Kennedy ist ein typischer Kennedy-Roman: Eine Exkursion in eine schäbige Schatten- und Täuschungswelt falscher Heilsbringer, immer grundiert vom spöttischen Mitleid der Autorin.
Die schottische Erzählerin Alison Louise Kennedy ist eine furchtlose Autorin, eine Spezialistin für riskante Liebesgeschichten. Sie ist eine Meisterin im Erschaffen klaustrophobischer und obsessiver Welten. Stets geht es in ihren Romanen um Passionen, Verworfenheiten, Erlösungssehnsucht, Todesnähe. Sie spürt den unerklärlichen Seelenfinsternissen ihrer Figuren nach. Kennedys Plots sind immer hypnotisch, verdreht, schwierig, auf dunkle Art komisch - also tragikomisch - und sehr seltsam.

Sie reißt den Leser mit durch die Kühnheit und Kraft ihrer Bilder, durch die helle Schärfe ihrer Sprache, voll Selbstironie und grimmigem Witz, voll sarkastischer Komik und schwarzem Humor. Es gibt in Kennedys Romanen und Erzählungen keine Helden und keine Schurken, denn letztlich liebt sie ihre Romanfiguren, wie abgründig, neurotisch und verstört sie auch immer sein mögen.

Insofern ist "Das blaue Buch" ein typischer Kennedy-Roman - zugleich obsessive Liebesgeschichte und soziale Tragikomödie, Exkursion in eine schäbige Schatten- und Täuschungswelt falscher Heilsbringer, doch immer grundiert vom spöttischen Mitleid der Autorin mit den existenziellen Nöten einer trost- und hilfsbedürftigen Menschheit.

In ihrem sechsten Roman taucht A. L. Kennedy tief ein in die betrügerische Welt von dubiosen Magiern, Scharlatanen und falschen Seelentröstern. Das Setting ist klaustrophobisch - ein Luxus-Kreuzfahrtschiff unterwegs nach New York - und zugleich sozial ergiebig mit seiner Fauna kurioser Schiffspassagiere, die Kennedy Raum bieten für gestochen scharfe Porträts einer sarkastischen Gesellschaftskomödie.

Ihre Protagonisten Arthur Lockwood und Elizabeth Barber - Geschäftspartner und Liebespartner - touren jahrelang als falsche Medien durch Provinzstädte und gaukeln einem leichtgläubigen Publikum in Séancen vor, den Kontakt zu geliebten Toten herstellen und deren Botschaften an die Lebenden übermitteln zu können. Bis Elizabeth den faulen Zauber nicht mehr aushält und ihren Partner verlässt.

Auf dem Kreuzfahrtschiff begegnen sie sich Jahre später zufällig - oder nicht ganz zufällig - wieder. Arthur ist als Nobel-Scharlatan, Tröster und Hirnverdreher reicher Witwen inzwischen wohlhabend geworden, wenngleich voll schlechten Gewissens; Elizabeth ist drauf und dran, sich mit einem stinknormalen Langweiler zu verloben, um in einem Durchschnittsleben aufzugehen, für das sie nicht gemacht ist. Doch ihre zufällige Begegnung zieht ihnen beiden den Boden unter den Füßen weg: Zeit, ihre Lebensentwürfe und ihre gemeinsame Vergangenheit erstmals ehrlich zu überdenken und neu zu bewerten - vielleicht mit der Chance auf eine wahrhaftigere Zukunft.

Ihren Romanstoff, der zum Zynismus geradezu einlädt, behandelt A. L. Kennedy illusionslos präzise, aber mitfühlend. Sie betrachtet die Menschen in all ihrer Jämmerlichkeit doch immer als Mitmenschen:
"Ihre Herzen werden gebrochen werden, vielleicht mehr als einmal, und zu irgendeinem unvermeidlichen Zeitpunkt werden sie aufhören zu existieren. Darum können sie nichts als Zärtlichkeit verdienen."

Besprochen von Sigrid Löffler

A. L. Kennedy: Das blaue Buch
Roman, Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Carl Hanser Verlag, München 2012, 365 Seiten, 21,90 Euro