Obdachlose Marathonläufer in Los Angeles

Schritt für Schritt ins neue Leben

Obdachlosenzählung in Los Angeles
Obdachloser in Los Angeles im Januar 2015 © AFP / Foto: Frederic J. Brown
Von Kerstin Zilm  · 22.03.2015
Skid Row bezeichnet einen Bezirk direkt im Schatten der Wolkenkratzer von Downtown Los Angeles, in dem rund 1700 Obdachlose leben. Ein Richter des Obersten Gerichts und passionierter Läufer ändert dort mit seinem Laufprogramm das Leben der Menschen.
Um kurz vor sechs morgens wird es unruhig auf Skid Row. In wenigen Minuten kommen Reinigungstruppen, die Essensreste, Fäkalien und anderen Müll von Gehwegen in die Gullys spritzen. Zelte und Lager müssen zur Seite geräumt sein. Aus einer der Herbergen kommt eine Gruppe, die auffällt: neun Männer, drei Frauen in Jogging- und Turnhosen, sauberen T-Shirts mit zielgerichtetem Blick und aufrechtem Gang. Es ist die Marathon-Truppe der "Midnight Mission", angeführt von Craig Mitchell, 58 Jahre alt, Richter am Obersten Gerichtshof von Los Angeles.
"Als wir das erste Mal zusammen gelaufen sind, musste ich mich bremsen. Ich konnte alle schlagen. Das Tolle ist: jetzt bin ich noch immer vorne dabei, aber manche könnten mich weit hinter sich lassen, wenn sie wollten."
Schnell verschwinden sie in zügigem Trab zwischen Zelten, Stundenhotels und Parkplätzen über eine Brücke in Richtung aufgehender Sonne. Sie sind Musiker, Maler, Geschäftsleute, Studenten, ehemalige Alkoholiker, Drogenabhängige und Obdachlose. Richter Mitchell sieht in ihnen mehr. Angeregt von einem Ex-Häftling, dem er im Gerichtssaal begegnete, gründete der leidenschaftliche Marathonläufer das Programm.
"Das sind wertvolle Menschen. Talentiert, anständig und klug. Ich bin gerne mit ihnen zusammen und ich bin wählerisch! Ich verbringe lieber Zeit mit ihnen als beim Small Talk mit Kollegen im Gericht."
In der Obdachlosenunterkunft hat die Frühstücksausgabe begonnen, als eine knappe Stunde später die ersten verschwitzt vom Zehn-Kilometer-Lauf zurückkommen. Donald Conner hat in einem Jahr 15 Kilo abgenommen und studiert im zweiten Semester an einer Fachhochschule Wirtschaft.
"Laufen spielt bei allem eine so große Rolle: ich kann mich besser konzentrieren, all die Anspannung fällt von mir ab. Es inspiriert mich: Disziplin und Zuverlässigkeit - das ist die halbe Miete. Der Rest kommt von allein."
Die zweite Chance
Ben Shirley läuft seit gut drei Jahren jeden Morgen, zweimal die Woche mit dem Richter, die anderen Tage ohne. Der ehemalige Bassist einer Heavy-Metal-Band schaffte in der Obdachlosenunterkunft einen schweren Drogenentzug. Inzwischen hat er eine eigene Wohnung und gute Chancen auf ein Stipendium für die Musikhochschule in San Francisco. Richter Mitchell ist für ihn mehr als ein Laufpartner:
"Er gibt uns Tipps fürs Leben. Wir können mit ihm reden, während wir laufen, ihm alles anvertrauen. Er ist unser Freund, ist positiv und selbstlos. Davon möchte ich lernen."
Ryan Navales nickt. Er hat durch seinen Alkoholismus mehrere gute Jobs, sein Haus und seine Familie verloren. Jetzt ist er Pressesprecher der Mission, und ein zuverlässiger Vater für seine neun Jahre alte Tochter. Ein Leben ohne Laufen kann er sich nicht mehr vorstellen:
"Es hat mir eine Identität gegeben. Ich bin ein Läufer, ein Marathonläufer. Ich hatte nie ein positives Bild von mir selbst! Jetzt setze ich mir Ziele und erreiche sie, kleine und große, bin fit und nüchtern."
In seinem Büro zeigt Navales Donald Conner einen Briefumschlag voller bunter Euro-Scheine. Daneben liegt der Terminplan für Rom mit Abstecher nach Florenz. Auch Conner ist startklar.
"Ich hab fertig gepackt. Es kann losgehen. Ich muss mich nur noch von meinem Sohn verabschieden."
Für ihn ist es der erste Trip raus aus Amerika und der erste Marathon. Ryan Navales ist sein Leben lang als Geschäftsmann gereist und hat inzwischen an fünf Marathonläufen teilgenommen. Er bezahlt seine Reise selbst. Anderen haben Spender geholfen: Schuhgeschäfte, ein Dokumentarfilmteam, Freunde - und natürlich Richter Craig Mitchell.
"Es geht darum, ihnen zu zeigen, dass ihr Leben nicht von Skid Rows Grenzen definiert ist. Sie können sich ein Ziel setzen, einen Reisepass bekommen und Erfahrungen sammeln, die sie vor einem Jahr nicht für möglich gehalten hätten. Das alles weil sie gute Entscheidungen getroffen haben."