"Obama ist ein Gefangener von diesem Apparat"

Moderation: Susanne Führer · 18.06.2013
Vor ein paar Jahren stand Barack Obama in Europa für Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte, heute wird seine Politik mit Drohnenangriffen und Bespitzelung verbunden. Norman Birnbaum erläutert, welchen verschiedenen Interessen Obama gerecht werden muss - und warum er damit scheitert.
Susanne Führer: Heute Abend wird Präsident Barack Obama in Berlin eintreffen, morgen eine Rede am Brandenburger Tor halten. Ob ihm wieder Hunderttausende Deutsche zujubeln werden, so wie vor fünf Jahren, als er noch Kandidat für das Präsidentenamt war? Die Enttäuschung über Obama ist groß, dies- und natürlich auch jenseits des Atlantiks. Zu den Enttäuschten gehört auch der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum, den ich jetzt am Telefon begrüße. Guten Tag, Herr Birnbaum!

Norman Birnbaum: Ja, guten Tag!

Führer: Ich habe vorhin mal in unserem Archiv gestöbert und gefunden, dass wir uns im Jahr 2011 schon einmal über Obama unterhalten haben, und schon damals sagten Sie: Ich bin enttäuscht von Obama. Diese Enttäuschung kann ja seitdem eigentlich nur noch größer geworden sein, oder?

Birnbaum: Ja, es ist eine Mischung von Enttäuschung und Trauer, sowohl einer analytisch gefärbten oder professorial gefärbten Verzweiflung über die Unfähigkeiten von unseren politischen Institutionen, irgendwelche Modelle von tief gehenden und vorführenden Demokratien zu schaffen, besonders aber im wirtschaftlichen Bereich.

Führer: Was werfen Sie ihm denn vor allem vor?

Birnbaum: Ja, er hat, als die Zeit reif dafür wurde – das heißt, die öffentliche Meinung war sehr beeindruckt von dem totalen Versagen von unserem Bankenwesen, Regulierungsinstanzen und so weiter –, er hätte damals, glaube ich, mehr tun können, um die Allmacht des Finanzkapitals in Amerika zu bremsen. Stattdessen hat er mit Leuten gearbeitet, die selbst sozusagen auf der Gehaltsliste waren von diesen großen Unternehmen, und Kompromisse gemacht, wenn keine nötig waren, statt eine etwas strengere Bankenaufsicht, sogar mehr ein Teil von öffentlichen Institutionen, und die Wirtschaft … Schlüsselpositionen in der Wirtschaft zu schaffen.

Führer: Das ist also die Wirtschafts- und Finanzpolitik betreffend. In Europa ist Obama ja vor allen Dingen wegen der Bespitzelung durch die NSA, also die National Security Agency jetzt in Verruf geraten, mit diesem Programm Prism, zuvor auch durch den Drohnenkrieg, was sagen Sie dazu, Herr Birnbaum?

Birnbaum: Ja, der Drohnenkrieg, und sogar – man kann das allgemeiner aussprechen – Drohnenkrieg, Bespitzelungsprogramm, totaler Überwachungsstaat. Diese Dinge hat Obama selbstverständlich gehört, aber er hat nicht genug getan, um die öffentliche Meinung dagegen zu stimmen, und ist damit ein Gefangener von diesem Apparat und seiner initialen Kräfte geworden. Da wieder scheint es, dass er hat es für vernünftiger gehalten, einen Kompromiss zu schlagen. Er zieht unsere Truppen aus Afghanistan und Irak zurück, dagegen geht der sogenannte namenlose Krieg und grenzlosen Krieg gegen den Terror fort. Jetzt gibt es den Vorschlag, noch in Syrien sich einzumischen, wobei niemand ein gutes Ende prophezeien konnte.

Führer: Stehen Sie eigentlich allein mit dieser Enttäuschung, Herr Birnbaum, oder hat sich die gesamte linke Intelligenz von Obama inzwischen abgewandt?

Birnbaum: Ja, unsere linke Intelligenz ist – ich muss zugeben – sehr gespalten. Das heißt, es gibt verschiedene Interessenkomplexe: Wirtschaft, Kultur, soziale Beziehungen und so weiter. Sowohl als die fortwährende Frage von Diskriminierung gegen Einwanderer und sicher eine kontinuierliche Diskriminierung gegen Schwarze, trotz großer Fortschritte. Man muss sagen, wir hatten keine einheitliche Linke, und wenn man von linker Intelligenz spricht: Wir haben keine einheitliche Konzeption, oder wie wir das weiter machen können.

In dieser Hinsicht sind wir eher mit den europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten zu vergleichen. Viele, viele kritische Leute sind enttäuscht von Obama, und ich nehme dazu auch Konservative, die keine Fortschrittsgedanken bewegen, aber die einfach ein anständiges öffentliches Leben und einen begrenzten Staat in unserer Republik haben möchten, die sind auch enttäuscht. Die waren nicht begeistert von McCain oder Romney und waren bereit, einen demokratischen Präsidenten, besonders einen sehr intelligenten, der mal Verfassungsrecht an der Universität von Chicago unterrichtet hat, zu unterstützen. Aber alle diese Hoffnungen sind jetzt sehr viel gestreut, nicht wahr?

Führer: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit dem amerikanischen Soziologen Norman Birnbaum über Obama und die Enttäuschung der Linken. Herr Birnbaum, wie wird denn das diskutiert in den USA, gibt es da eine offene und breite Debatte, oder hält man sich mit Kritik an Obama eher zurück? Also Noam Chomsky hat ja neulich den Vorwurf erhoben, dass die Intellektuellen Amerikas, dass die korrupt seien und sich mit ihrer Kritik nicht wirklich trauten, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Birnbaum: Ja, ich glaube, da würde ich den von mir sehr geschätzten Kollegen Noam nicht unterstützen. Korrupt ist eine Mittelschicht. Angetan von Markt oder Einfluss und Einkommen, gibt es eine sozusagen technokratische Mittelschicht. Man kann diese Leute – die sind alle gebildet und so weiter, haben unsere Universitäten besucht, aber diese Leute sind eher Verwaltungstechniker, Karrieristen, wir haben keine allzu große Gewerkschaftsbewegung. Es ist schwer für jemanden, der, sagen wir, kritisch politisch tätig sein will, einen Anhaltspunkt zu finden bei den jungen Leuten.

Die Occupy-Bewegung ist weg, die Leute sind fast gezwungen, in den existierenden Agenturen und Gruppierungen und Institutionen sich einzufügen, in dieser sowieso sehr gespaltenen Gesellschaft, die mit Europa nicht zu vergleichen ist. Unter diesen Umständen würde ich sagen, es gibt eine Diskussion. Man braucht nur etwa die Leitartikel und Meinungsbeiträge in der "New York Times" zu lesen, aber dies ist etwa eine … (Anmerkung der Redaktion: Wort nicht verständlich.) Angelegenheit. Wenn man das Blogwesen betrachtet, ich würde sagen, ist die Gegnerschaft gegen Obama ziemlich, ziemlich groß.

Führer: Blicken wir noch mal vier, fünf Jahre zurück, Herr Birnbaum. Damals stand Obama in Europa zumindest für Rechtsstaatlichkeit und für Achtung der Menschenrechte, Bush hingegen ja für Waterboarding und Guantanamo. Offenbar haben wir uns alle geirrt, also: Obama lässt gezielt Menschen töten – der sogenannte Drohnenkrieg –, und zwar mehr, als Bush jemals zuvor, er lässt massenhaft Menschen bespitzeln. Dann gibt es zum Beispiel auch noch dieses NDAA, das Gesetz zur nationalen Verteidigung, wonach auch US-Bürger ohne Anklage oder Gerichtsverhandlung unbegrenzt eingesperrt werden können. Obama hatte "Change" versprochen, Wandel, aber was hat sich geändert, also abgesehen davon, dass er besser aussieht als Bush und besser reden kann?

Birnbaum: Ja, Sie können gut fragen, das fragen wir uns auch. Aber das führt zu dem Schluss, dass Schuld an dieser … Schuld, die Ursache … von dieser Ursache … Grund für diese Geschehnisse ist nicht das Verfehlen von dieser oder jener politischen … (Anmerkung der Redaktion: Wort nicht verständlich.) Präsident, aber ein Apparat, der sozusagen seine eigene Gesetze hat. Und der weiß genau, wie Leute, die aus der Reihe treten, zu disziplinieren sind. Wir haben bald die 50-jährige Feier von dem berühmten Kennedy-Besuch in Berlin, als unser junger Präsident damals ein Freiheitsheld war. Kennedy ist einige Monate danach getötet worden.

Niemand glaubt wirklich, dass dieser Oswald alleine gehandelt hat, es gibt jetzt genug Vermutungen, dass da eine große Verschwörung war. Das war danach, fünf Jahre später, als sich sein begabter jüngerer Bruder angeschickt hat, wieder ein reformistischer Präsident zu werden, und der große Führer Martin Luther King. Also, es gibt Arten und Weisen, wie Leute in unserem System sind gewarnt, nicht über gewisse Grenzen zu treten. Ich glaube, dass in Obamas Fall, ohne dass er das ausspricht oder zugibt, diese Lektüre von unserer Geschichte hat er sich zu eigen gemacht. Der hat eine große innere Hemmung, sozusagen zu viel Konfliktstoff auf einmal an die Oberfläche zu bringen, weil er glaubt, das nicht beherrschen zu können.

Führer: Aber kann man alles auf den Apparat schieben? Ich meine, es ist Obama, der persönlich jeden Dienstag da sitzt mit den Todeslisten für den Drohnenangriff, und entscheidet, der ja, der nein.

Birnbaum: Ja, das kann er korrigieren. Ich glaube, es wird allmählich korrigiert. Aber fassen wir es so zusammen, dass er glaubte, dass er hatte nicht genug öffentliche Unterstützung, um sich mit dem Apparat anzulegen.

Führer: Enttäuscht von Obama ist auch der Soziologe und Publizist Norman Birnbaum, und ich danke Ihnen für das Gespräch im Deutschlandradio Kultur, Herr Birnbaum!

Birnbaum: Ja, es hat mich gefreut, danke! Wiederhören!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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