OASIS- Online-Ambulanz für Internetsüchtige startet

Wie Streetworking, aber über Webcam

Ein junger Mann sitzt vor seinem Computer und spielt ein Computerspiel.
Ein junger Mann sitzt vor seinem Computer und spielt ein Computerspiel. © dpa / picture alliance / Peter Steffen
Von Klaus Deuse · 01.09.2016
Der Einstieg in die bunte, vielfältige digitale Wunderwelt fällt leicht. Vielen fällt es aber inzwischen schwer, aus den Tiefen des Netzes wieder zurück in die reale Welt zu finden. Es hat lange gedauert, bis Onlinesucht als therapiebedürftige Krankheit erkannt wurde. OASIS bietet jetzt eine Online-Anlaufstelle. Anonym, sozusagen eine digitale Brücke im Internet.
Im Videokonferenzraum der LWL-Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychiatrie der Ruhr-Universität Bochum wartet Doktor Bert te Wildt auf seinen ersten Patienten an diesem Tag. Vor einem großformatigen Monitor mit Webcam.
Systemeinleitung: "You are currently the only person in this conference."
Bert te Wildt: "Also das System sagt mir, ich bin erst einmal allein in diesem Videokonferenzraum, ich schalte meine Kamera ein."
Patient: "Hallo…"
te Wildt: "Herzlich willkommen bei OASIS. Ich freue mich, dass Sie sich angemeldet haben zum ersten Sprechstundentermin. Was führt Sie zu uns?"
Patient: "Es ist schon so, dass ich viel im Internet spiele…bekam die Rückmeldung, dass ich vielleicht gefährdet bin. Und da wollte ich unter der Webcam doch mal mit Ihnen reden."
Internetsüchtigen via Internet den Weg zur Behandlung ihrer Sucht zu ebnen, das erscheint auf den ersten Blick wie der Versuch, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Doch genau diesen Weg geht der Psychotherapeut Bert te Wildt mit der vom Bundesgesundheitsministerium geförderten bundesweiten Online-Ambulanz OASIS.

Dort abholen, wo die Sucht entsteht

Te Wildt: "Uns geht es ja darum, wie man früher Streetworking verstanden hat. Wo man zu Junkies auf die Straße gegangen ist. Sie dort abzuholen, wo die Sucht entstanden ist. Das kann man schon, glaube ich, ganz gut übertragen ins Netz. Und das ist unser Ziel eben: sie digital abzuholen, um sie in ein analoges Behandlungs-Setting zu bringen."
Bert te Wildt beschäftigt sich seit dreizehn Jahren mit der Thematik Internetabhängigkeit und kennt alle Formen dieser Sucht.
"Dazu gehören vor allen Dingen Online-Spiele. An zweiter Stelle, zumindest bei uns wie in vielen anderen Ambulanzen, die Cyber-Sex-Süchtigen. Und an dritter Stelle die sozialen Netzwerke."
Und die Zahl der Süchtigen, sagt te Wildt, ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen.
"Ich gehe davon aus, damit beziehe ich mich auch auf epidemiologische Studien, dass wir im Moment von ungefähr einer Million Internetabhängigen in Deutschland ausgehen müssen."
Tendenz: steigend. Doch nur wenige fassten bislang aus eigenem Antrieb oder auf Druck von Angehörigen den Entschluss, sich in eine Therapie zu begeben. Ihnen will man nun mit der von der Bundesdrogenbeauftragten unterstützten Online-Ambulanz OASIS eine Brücke bauen. Der erste Schritt besteht in einem anonymen Selbsttest im Netz. Danach folgen persönliche Gespräche. So wie mit dem 23-jährigen Studenten, der offen darüber redet, wie viele Stunden er im Netz verbringt.

14 Stunden und mehr im Netz

Student: "Ja, das sind schon mal 14 oder halt die ganze Nacht, je nachdem ob meine Freunde dann dabei sind, dass ich erst in den frühen Morgenstunden schlafen geh."
Die Online-Ambulanz OASIS garantiert einen vertraulichen Raum. Bert te Wildt:
"Wir sprechen ja wirklich über Webcam. Nicht per Skype, sondern über ein sicheres System mit den Betroffenen zwei Mal 50 Minuten."
Die Betroffenen müssen das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben. Für Jugendliche können sich aber auch Angehörige melden. Das OASIS-Team in Bochum steht quasi rund um die Uhr bereit, damit sich auch Berufstätige beteiligen können. Wer in das System aufgenommen wird, erhält einen eigenen, gesicherten Nutzer-Account. In dem ersten diagnostischen Gespräch geht es um die Abklärung der Sucht.
Te Wildt: "Und dann schauen wir: Gibt es einen Kontrollverlust? Also gibt es wirklich ein typisches Suchtverhalten und gibt es Lebensbereiche, die auch wirklich durch diese Sucht geschädigt sind. Also sprich: Wenn derjenige den eigenen Körper, die menschlichen Beziehungen oder auch das Schulische vernachlässigt. Wenn dann klar ist, dass wirklich 'ne Sucht besteht, gucken wir auch: gibt es noch andere psychische Erkrankungen, die typischerweise mit 'ner Internetabhängigkeit einhergehen, die der Betroffene hat. Weil das für die Therapieberatung ganz entscheidend ist."

Vermittlung an Beratungsstellen

Denn häufig leiden Internetabhängige auch an Depressionen und sozialen Ängsten, schotten sich förmlich ab. Gerade ihnen, so te Wildt, könne die Online-Ambulanz aus der Isolierung heraushelfen. Ein Gespräch mit einem fremden Experten vor der Webcam falle einfach leichter, als sich in eine Sprechstunde am Wohnort zu begeben. In der zweiten Therapiesitzung im Netz steht am Ende das Ziel, die Betroffenen in eine von circa 120 Beratungsstellen oder Praxen im Bundesgebiet zu vermitteln. Denn zu einer Abnabelung von der Sucht gehören wie in der Klinik in Bochum spezielle Gruppentherapien, die sich auf 25 bis 50 Wochen erstrecken können. Oder, in ganz schweren Fällen, stationäre Behandlungen von sechs Wochen. Vergeben werden die Online-Sprechstunden innerhalb von drei Wochen. Denn Zeit, betont Psychotherapeut te Wildt, kann und will man in keinem Einzelfall verlieren:
"Weil das Zeitfenster, in dem Suchtkranke eine Motivation dann aufbringen, wirklich was zu verändern, ist häufig relativ klein. Das heißt, es ist für uns ganz wichtig, möglichst schnell erreichbar zu sein."
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