Nulltoleranz und Hormesis

26.05.2007
Ein neues Modewort macht sich breit: Die "Nulltoleranz". Genauer gesagt die Forderung nach einer solchen, beispielsweise für Rückstände in Lebensmitteln. (Nulltoleranz ist eigentlich nur ein anderes Wort für Intoleranz, klingt aber unverfänglicher.) Nach dem alten Motto "viel hilft viel", gilt umgekehrt natürlich auch: je geringer die Dosis desto unschädlicher. Bei einer "Nulltoleranz" ist das Risiko selbstredend gleich Null. Umgekehrt gilt: je mehr wir von einem "guten" Stoff aufnehmen, desto "gesünder" sind wir.
Bisher geht man bei der Sicherheitsbewertung davon aus, dass mit der Belastung, dass mit steigender Dosis das Risiko zunimmt. Das klingt zwar logisch, ist es aber nicht. Denn in der belebten Welt dominiert die Kurve, die Schwingung, das Oszillieren. Kein Kind wächst jedes Jahr um gleich viele Zentimeter, Insekten vermehren sich nicht gleichmäßig, kein Jahresring eines Baumes ist identisch, sondern schwankt je nach Witterung. Lineare Effekte (oder monotone, wie der Mathematiker sagt) sind in der belebten Welt die große Ausnahme – wenn es sie überhaupt gibt.

Woher kommt diese Vorstellung? Wir Menschen bevorzugen einfache Beziehungen zwischen zwei Größen. So nehmen wir instinktiv an, dass eine Steigerung der Dosis stets mit einer stärkeren Wirkung einhergeht - nach dem bewährten Motto "Viel hilft viel". Je mehr Lehrer, desto klüger die Schüler, je mehr Ärzte, desto gesünder die Menschheit, und je mehr Geld für Soziales, desto schneller verschwinden soziale Probleme. In mancherlei Hinsicht sind diese Faustregeln ja auch durchaus plausibel.

Was aber, wenn die Wirkung nicht parallel zur Dosis steigt? Dann haben wir ein Problem. Denn Stoffe können in geringerer Dosis sogar schädlicher wirken als in höherer Dosis. Das kommt, wie man inzwischen weiß, gar nicht so selten vor. Doch bisher hat sich die Fachwelt bemüht, derartige Effekte mit statistischen Methoden zu glätten, was aber nicht immer gelang. Bei der Durchsicht der Toxizitätsprüfungen von 15 Zusatzstoffen fanden Chemiker gleich 70 Mal nicht-monotone Daten. In einer der Studien zur Toxizität eines Lebensmittel-Farbstoffes lesen wir:

"Obwohl die Sterblichkeit bei der Gruppe mit der niedrigen Ein-Prozent-Dosierung (…) am höchsten war, gab es keine Korrelation zwischen Dosis und Mortalität. Daher darf man annehmen, dass das Überleben [der Tiere] nichts mit die Einnahme des Lebensmittelfarbstoffes zu tun hat."

Jahrzehntelang haben die Experten darauf verzichtet, diesen Phänomenen genauer nachzugehen. Kürzlich erschien eine Publikation, in der erstmals klar eingestanden wird, dass eine nicht-monotone Wechselbeziehung zwischen Dosis und Wirkung der Normalfall ist.

Ist damit das Risiko von Schad- und Zusatzstoffen unterschätzt worden? Teilweise ja. Doch es gibt noch mehr Überraschungen. Denn das Fehlen einer linearen, einer monotonen Beziehung bedeutet ja nicht nur, dass die Stoffe auch in niedrigerer Dosis schädlicher sein können als erwartet, sondern auch, dass positive Effekte bei niedrigen Dosierungen auftreten könnten. Genau das ist der Fall – und auch diesmal viel häufiger als gedacht.

Stoffe, die wir gemeinhin als Gifte bezeichnen, können in geringen Konzentrationen durchaus positiv auf den Organismus wirken, weil sie ihn anregen und stimulieren. Dieses Phänomen wird als "Hormesis" bezeichnet. Sie besagt nichts anderes, als dass niedrige Dosen toxischer Stoffe auch vorteilhafte Effekte haben. Eine internationale Toxikologenkommission stellte kürzlich fest, dass diese chemische "Hormesis" bei knapp 400 von immerhin 4000 ausgewerteten Studien nachweisbar war. Da der Effekt gewöhnlich durch Datenmassage oder Weglassen verschleiert wird, liegt die reale Zahl derartiger Befunde wahrscheinlich um ein Vielfaches höher. Positiv beeinflusst wurden vor allem Wachstum, Fruchtbarkeit und die Lebensdauer. Das galt nicht nur für ein paar Versuchstiere, sondern die gesamte belebte Welt: von Bazillen bis zu Bäumen. Der positive Effekt lag dabei im Vergleich zu den Kontrollen nicht selten bei 50 Prozent!

Zusatzstoffe und Umweltgifte Lebensverlängernd? Das rüttelt an den Festen unserer Weltanschauung. Aber die wurde schon öfters kräftig durchgeschüttelt, man denke nur daran, wie die Erde von der Scheibe zur Kugel wurde und schließlich sogar ihren Platz im Mittelpunkt unseres Planetensystems an die Sonne abtreten musste. Oder wie der Mensch von der Krone der Schöpfung zum "Vetter Affe" wurde. Offensichtlich können Schadstoffe in Konzentrationen, die etwa einem Zehntel derjenigen Konzentration entsprechen, bei der noch keine toxischen Effekte auftreten (so genannte NOEL), ausgesprochen positiv auf die Gesundheit wirken.

Umgekehrt heißt das aber auch, dass Stoffe, die in geringer Dosis hilfreich sind, in hoher Dosis giftig sein können. So ergaben groß angelegte Studien mit populären Vitaminen, dass Menschen, die das extra schlucken, etwas eher sterben als Personen, die Zeit ihres Lebens um derartige Vitaminpräparate einen großen Bogen machen.

Fazit: Bevor wir voreilige Schlüsse daraus ziehen, bitte erst einmal tief durchatmen: Denn die "Hormesis" bedeutet keineswegs, dass wir uns fürderhin über Schadstoffe freuen sollten. Es gilt auch weiterhin das Ziel, ihre Konzentration möglichst klein zu halten. Aber vielleicht ist es ein Wink, die Welt, in der wir leben, nicht zwanghaft völlig keimfrei, stressfrei und risikofrei zu gestalten, ein Wink zu akzeptieren, dass eine gewisse Toleranz auch im Umgang mit unbekannten oder gar schädlichen Stoffen sinnvoller sein kann, als Forderungen nach einer Nulltoleranz.

Weiterführende Literatur & Quellen:
Pollmer U, Niehaus M: Food Design: Panschen erlaubt. Wie unsere Nahrung ihre Unschuld verliert. Hirzel Verlag, Stuttgart 2007
Luckey T D: Radiation Hormesis. CRC, Boca Raton 1991
Bjelakovic G et al: Mortality in randomized trials of antioxidant supplements for primary and secondary prevention. JAMA 2007; 297: 842-857