NSU

Wut, Trauer und Anklage

Die Keupstraße fotografiert am 02.06.2014 in Köln (Nordrhein-Westfalen). Am Pfingstmontag ist es genau zehn Jahre her, dass vor dem Friseursalon in der Kölner Keupstraße eine Bombe explodierte.
Die Kölner Keupstraße © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Dorothea Marcus · 08.06.2014
Vor zehn Jahren wurden bei einem Bombenanschlag des NSU in der Kölner Keupstraße 22 Menschen verletzt. Mit einem dreitägigen Kulturfest und einem Bühnenstück erinnern Bewohner und Theatermacher an die Bluttat.
Wer hier spielt, ist das Landespolizeiorchester NRW mit dem Türkischen Nationalorchester TRT aus Istanbul. Ein heiterer und hochsymbolischer Akt an diesem heißen Pfingstsonntag. Eben jene Polizei, die jahrelang in die falsche Richtung entwickelt hat, die die Anwohner verdächtigte, einen rechtsradikalen Hintergrund nach wenigen Stunden ausschloss – spielt nun türkische Musik, mit jenen Türken zusammen, die sie vor zehn Jahren noch einem Generalverdacht unterzogen.
"Als die durchgeknallten Terroristen mit den beiden Flugzeugen da in die Twin Towers reingeflogen sind – wie viele Verwandte wurden da verdächtigt? Wurden bei denen auch die Geschäftsräume durchsucht?"
"Die Fragen waren falsch. Hast du jemand Auffälliges gesehen? Irgendwann kam die Frage: Dein Vater weiß, wer es war, er hat es dir gesagt – warum sagst du es nicht?"
Als Opfer zum Täter gemacht
Wer hier von den Polizeiverhören erzählt, sind Ismet Büyük und Ayver Demir auf der Bühne des Schauspiels Köln, kaum 100 Meter von der Keupstraße entfernt. Jahrelang verweigerte Demir sich, Interviews zu geben, so traumatisiert war sie von der Bombe, aber auch davon, wie sehr sie als Opfer zum Täter gemacht wurde. Ihr Vater besaß das Reisebüro um die Ecke des Friseursalons, wo die Bombe mit den 700 Nägeln hochging. Sie wurde dort gegen die Wand des Reisebüros geschleudert. Zwei Jahre später musste es schließen, weil die Keupstraße nach dem NSU-Anschlag einen geschäftlichen Niedergang erlebte.
Der Regisseur Nuran David Calis hat "Die Lücke" inszeniert und zwei Jahre lang mit den Anwohnern der Keupstraße über den Anschlag gesprochen.
Meral Sahin: "Es pocht. Immer im Hintergedanken: Hätte ich meinen Sohn rausgeschickt zum Brotholen: Was ist hier passiert? Was ist hier passiert?"
Izmet: "Ich glaube nicht an Gerechtigkeit. Man erzählt uns, es würde Gerechtigkeit geben? Seit den 90er-Jahren passieren derartige Anschläge. Was ist mit den Tätern passiert? Höchstens drei bis fünf Jahre. Mehr nicht!"
Schauspieler: "Aber in München wird doch versucht… und die wird doch 25 Jahre dafür kriegen! Was erwartet ihr denn?"
Es ist ein Abend der Wut, der Trauer und der Anklage. Warum gelingt Integration nicht? Wie kann es sein, dass unbehelligt unschuldige Geschäftsleute niedergeschossen werden und ihr Umfeld beschuldigt wird? Warum dauert der Prozess so unendlich lange? Die Wunden sitzen immer noch tief.
Forschen nach der eigenen Toleranz
Auf der Bühne im Schauspiel Köln sitzen drei deutsche Schauspieler den drei Geschäftsleuten der Keupstraße in weißen Rollkästen gegenüber. Zwischen ihnen: ein fast unüberwindbarer Abgrund. Minutenlang sehen sich die Parteien schweigend, feindlich und auch etwas distanziert neugierig an. Ein starkes Bild für die Gesellschaft der Bundesrepublik: Man beobachtet sich, doch man spricht nicht. Parallele, unverbundene Welten.
Der dritte Laiendarsteller Kutlu Yurtseven spricht von dem Rassismus, der ihm überall entgegentritt. Dass seine Lehrerin ihn trotz guter Noten immer nur auf die Hauptschule schicken wollte. Und die deutschen Schauspieler forschen nach der eigenen Toleranz, mit der es vielleicht doch nicht so gut bestellt ist.
"Es ist so, dass man nie weiß, wo man hingehört. Ich sitze bei meinem Freund. Seit wann leben Sie in Deutschland? Seit 16 Jahren. Ich bin hier geboren."
Schauspieler: "Ich will denen am liebsten Freiheit per Gesetz verordnen. Und dann merke ich wieder wie totalitär ich werde… Ich habe immer im Hintergrund:
Die leben nach anderen Gesetzen als ich. Die hat ein Kopftuch auf!"
"Herzlich Willkommen. Genießt diese Straße."
Verbitterung und Fremdheit bleiben groß, zeigt "Die Lücke". Doch zuweilen wirkt der eifrige Selbstanklage-Furor auch sehr bemüht, die Reflexionen zur Integration wirken direkt aus dem Probenprozess abgeschrieben. Und dennoch könnte hier an diesem Pfingstwochenende etwas Neues passieren. Was man übrigens nicht nur an den zahlreichen türkischen Familien sehen kann, die zur Premiere gekommen sind.
Meral Sahin: "Ich möchte euch alle jetzt umarmen und wirklich das Gefühl geben, wie willkommen Ihr seid auf dieser Straße. Ich fühle mich auf meiner Rechten und Linken mit den wunderbaren Menschen tatsächlich wohl und aufgenommen und in Schutz genommen. Wir werden ganz neue Seiten aufmachen Birlikte gegen Rassismus – wir werden alle gemeinsam daran arbeiten. Und wir möchten, dass es nach dem 8., 9. genauso bunt, genauso schön wird. In diesem Sinne: Herzlich Willkommen. Genießt diese Straße. Die Straße hat so große Sachen für euch zu bieten. Bleibt auch nach dem Fest. Wir wollen das auch abbauen. Genau diese Angst wollen wir abbauen."
Startschuss. Ein Tag nach der Premiere von "Die Lücke" strömen die Menschenmassen durch die Keupstraße, zum Kulturfest "Birlikte – Zusammenstehen". Türken und Deutsche gemischt. Erstmals überhaupt hat sich die so lange so hermetisch verschlossene Straße bis in den letzten Hinterhof geöffnet, wird große Symbolik aufgefahren. Aber ein wenig Kitsch gehört eben auch zur Keupstraße, wie Sahin selbst augenzwinkernd sagt. Weiße Friedenstauben fliegen zur Eröffnung in den Himmel, ein Engel der Kulturen wird durch die Straßen getragen und als Gedenkstein verlegt.
Erstmals wirklich gemeinsames Gedenken
In nie zuvor von Außenseitern betretenen Hinterhöfen und kleinen Läden lesen deutsche Schauspieler aus den NSU-Protokollen und spielen Theater, machen türkische Musiker Hip-Hop, wird vegetarischer Dürüm verkauft, in Podiumsdiskussionen wird sich gefragt: Wie konnte passieren, dass nach dem Mauerfall eine neue Qualität rassistischer Gewalt begann?
Es wäre eine Illusion zu glauben, dass mit einem dreitägigen Kulturfest und erstmals wirklich gemeinsamen Gedenken nun auf einmal alles gut sei. Aber was wirklich ein Fortschritt ist: wenn das Gedenken auf einmal genau dort stattfindet, wo es hingehört. Und das nicht parallel mit Lücke, sondern gemeinsam.
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