NSU-Prozess

"Viele Wünsche sind unerfüllt geblieben"

Moderation: Klaus Pokatzky · 17.02.2014
Mehmet Daimagüler, Anwalt von zwei Opfer-Familien im NSU-Prozess, fordert eine Enquete-Kommission des Bundestags, diese könne "Grundlagenarbeit für unsere Demokratie" leisten.
Klaus Pokatzky: Übermorgen befasst sich der Innenausschuss des Deutschen Bundestages wieder einmal mit den Morden des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).
Am Freitag sollen dann alle Abgeordneten im Plenum des Parlaments über Konsequenzen aus den NSU-Verbrechen debattieren. Heute zogen Vertreter der NSU-Opfer in Berlin auf einer Pressekonferenz Bilanz. Seit dem 06. Mai letzten Jahres wird in München vor dem Oberlandesgericht die strafrechtliche Aufarbeitung versucht.
Mehmed Daimagüler war heute bei der Pressekonferenz und er ist Nebenklagevertreter von zwei Familien, die Angehörige durch die NSU-Morde verloren haben.
Guten Tag, Herr Daimagüler!
Mehmed Daimagüler: Guten Tag!
Pokatzky: Wie weit hat der Prozess denn bisher zur Aufklärung beigetragen?
Viele Fragen kommen bislang zu kurz
Daimagüler: Sehr viel und sehr wenig zugleich. Sehr viel mit Blick auf die Angeklagten - ich glaube, dass wir heute ein sehr, sehr besseres Bild darüber haben, welche Rolle Frau Zschäpe und die anderen gespielt haben, ich glaube, dass die Anklageschrift der Generalbundesanwaltschaft auch voll umfänglich am Ende des Tages wird bestätigt werden können -, sehr wenig, wenn wir verstehen wollen, welche Hintergründe es gab.
Wir müssen davon ausgehen, dass es an vielen Tatorten lokale Helfershelfer gab. Wir müssen davon ausgehen, dass verschiedene V-Leute eine dubiose Rolle gespielt haben. All diese Fragen kommen bislang im Verfahren zu kurz.
Pokatzky: Wie erleben Sie denn, wenn es jetzt um die Bedürfnisse, Rücksichtnahme auf die Angehörigen geht, wie erleben Sie da den Prozess?
Daimagüler: Nun, ich denke, dass auf einer persönlichen Ebene das Gericht, auch der vorsitzende Richter sehr darum bemüht ist, die, ja, die Belange, die Gefühle der Opfer, die ja sehr, sehr häufig auch im Gerichtssaal nur wenige Meter von Frau Zschäpe entfernt sitzen, zu berücksichtigen. Also da gebührt dem Gericht großen Respekt.
Aber - und das ist ein großes aber - unsere Mandantschaft möchte ja natürlich verstehen, sie möchten verstehen, warum ihre Ehemänner, ihre Väter, ihre Brüder ermordet wurden, und zu diesem Verständnis gehören eben auch die Hintergründe, und dazu zählt aber auch die Frage eines Netzwerkes, und diese Frage ist, wie gesagt, bislang zu kurz gekommen. Insofern kann man nicht davon ausgehen, dass alle Hoffnungen der Opferfamilien, ja, befriedigt wurden.
Pokatzky: Wer versagt Ihrer Meinung nach dabei? Sind es die Bundesanwälte, an denen Sie ja auch in der Erklärung heute scharfe Kritik üben? Sind es die Ermittlungsbehörden? Aber wer versagt Ihrer Meinung nach dabei, wenn es darum geht, auch die Hintermänner aufzutun?
Stärker an einem Strang ziehen
Daimagüler: Erst mal müssen wir davon ausgehen, dass die Situation ja sehr, sehr schwierig ist. Es sind ja viele Jahre vergangen, viele Akten sind verschwunden, viele Akten sind verschwunden worden, auch das muss man sagen. Das heißt, wir operieren unter Umständen, die schon sehr, sehr schwierig sind. Aber gerade, weil die Umstände schwierig sind, würde ich mir wünschen, dass Nebenklage und gar Staatsanwaltschaft sehr, sehr viel stärker an einem Strang ziehen, und ich würde mir da auch von der Generalbundesanwaltschaft wünschen, dass sie stärker auch in Richtung Hintergrund und hintere Zusammenhänge forscht. Da würde ich in der Tat sagen, dass da viele Wünsche unerfüllt geblieben sind bislang.
Pokatzky: In der heutigen Erklärung verlangen Sie eine Enquete-Kommission des Bundestages zum institutionellen und strukturellen Rassismus. Was soll eine solche Enquete-Kommission bewirken?
Die Angeklagte Beate Zschäpe (graues Sakko) steht am 14.05.2013 im Gerichtssaal in München (Bayern) mit ihren Anwälten zusammen hinter der Anklagebank.
Der NSU-Prozess - Gerichtssaal in München© picture alliance / dpa / Peter Kneffel
Daimagüler: Mir geht es darum, um zwei Aspekte: Zum einen geht es in der Tat um Grundlagenarbeit für unsere Demokratie. Dazu zählt auch das Verstehen: Wie kann denn eigentlich eine gesellschaftliche Atmosphäre entstehen, wo es ganz normal erscheint, dass jemand eben eine Menschenfeindlichkeit an den Tag legt? Und wir haben das ja im Prozess erlebt, dass immer wieder Nachbarn, Freunde, Bekannte des Trios auftauchen und von einer Normalität sprechen, auch von einer gesellschaftlichen Normalität, die weit entfernt davon ist, was ich darunter verstehe.
Eine Enquete-Kommission könnte Grundlagenarbeit machen
Da wird abends im Keller gehockt, im Partykeller, man trinkt, isst, bestellt sich eine Pizza, und findet es ganz normal, dass an der Wand ein Porträt von Adolf Hitler hängt. Und wenn man dann diese Menschen fragt, ja, sind Sie denn selber Nazi, dann wird das bestritten, großer Gott, nein, natürlich nicht. Das heißt, wir haben da so eine Scheinnormalität. Und so eine Enquete-Kommission sollte tatsächlich Grundlagenarbeit machen, also: Was sind die Ursachen von einer Menschenfeindlichkeit, woher kommt das, wie kann man das bekämpfen?
Das sind alles Fragen, die elementar sind. Zum anderen erhoffe ich mir, dass bei einer Enquete-Kommission, wo ja auch nicht nur Politiker drin sind, sondern auch Vertreter der Zivilgesellschaft, dass daraus ein Impuls entsteht einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion, wo der Prozess ein Teil unserer Demokratisierung ist. Und das hat das Verfahren bisher leider nicht erreichen können, dass das als Anlass genommen wird für eine gesellschaftliche Debatte, denn das müssen wir doch sehen: Die Morde sind nicht aus einem politischen Nullum entstanden, sondern aus einer bestimmten Diskussion, die wir in Deutschland hatten und immer noch haben.
Pokatzky: Welche Diskussion meinen Sie damit?
Daimagüler: Nun, wenn man zurückblickt darauf, wann das Trio und das Umfeld radikalisiert wurde, dann hatten wir einfach Anfang der 90er-Jahre eine Asyldebatte, die unerträglich war, wo Menschen, die zu uns kamen in großer Not, eben als eine "parasitäre Last" dargestellt wurden. Und wenn man sich die Debatte von damals anschaut, von Anfang der 90er-Jahre, und auf heute schaut, wie wir heute über Sinti und Roma sprechen, die zu uns gekommen sind in Not, wie wir heute über Menschen sprechen, die aus einem Krieg in Syrien geflohen sind.
Wir müssen doch verstehen, dass, wenn die gesellschaftliche Mitte, die demokratische Mitte in einer Art und Weise über Menschen spricht, die nichts anderes als abwertend ist, dass dann an den Rändern es eben eine Radikalisierung gibt. All diese Fragen müssen debattiert werden, und ich glaube, dass der Deutsche Bundestag, unsere Volksvertretung, der richtige Ort dafür wäre.
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur der Rechtsanwalt Mehmed Daimagüler zum Stand der NSU-Aufarbeitung. Herr Daimagüler, wenn Sie jetzt fordern in der Erklärung mit Ihren fast zwei Dutzend Kolleginnen und Kollegen eine Enquete-Kommission des Bundestages, dann nehmen Sie als Beispiel immer eine berühmte Kommission in Großbritannien, die Macpherson-Kommission, die ab 1999 nach einem Mord an einem schwarzen britischen Studenten, Stephen Lawrence, unter der Leitung dieses Sir William Macpherson die polizeilichen Ermittlungen untersucht und dabei institutionalisierten Rassismus festgestellt hat. Wie lässt sich der denn bekämpfen? Brauchen wir vielleicht möglichst viele Polizistinnen und Polizisten, die Migrationswurzeln haben?
Daimagüler: Es gibt da keine einfache Erklärung oder einen Lösungsansatz. Natürlich wäre es wichtig, dass unsere Sicherheitskräfte die gesellschaftliche Vielfalt, die wir ja in Deutschland Gott sei Dank haben, auch widerspiegelt. Aber ich glaube, es geht um mehr.
Ich glaube, es geht darum, dass wir über unser Selbstbild, wir als Land, wir als Gesellschaft, wir als Deutsche über unser Selbstbild nachdenken und überlegen, wer wir sind und wer wir sein wollen, und dass eben die Demokratie, die wir haben, auch unsere Grundordnung, ja kein Naturgesetz ist, sondern etwas, was wir auch immer wieder aufs Neue diskutieren, debattieren, festlegen, bestimmen und auch verteidigen müssen.
Und das Beispiel aus Großbritannien ist auch deswegen ein gutes Beispiel, weil England, Großbritannien gezeigt hat, wie eine erwachsene Demokratie mit Problemen umgeht - eben den Problemen ins Gesicht zu blicken, sie anzunehmen und zu lösen, und nicht einfach zu sagen, na ja, wir haben kein Problem.
Und das ist ja einer der Punkte, die wir am Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses kritisiert haben. Da steht vieles drin, was richtig ist, in diesem Papier. Aber wir sprechen zentrale, wichtige Probleme nicht an, und dazu zählt auch alles, was wir unter dem Stichwort des strukturellen Rassismus subsumieren können.
Pokatzky: Sie haben in einem Artikel in der Wochenzeitung "Die Zeit" im vorigen Jahr geschrieben: "Bei meinem türkischen Freunden ist der Neonaziterror allgegenwärtig. Den meisten meiner deutschen Freunde nehmen dagegen eine seltsam distanzierte und desinteressierte Haltung ein." Glauben Sie, dass der Prozess in München an einer solchen Gleichgültigkeit etwas ändern kann?
Daimagüler: Er hätte das Potenzial dazu, etwas zu ändern, denn wie unter einer Lupe werden Dinge behandelt, die uns alle angehen, Hass, Menschenfeindlichkeit, Demokratie, das sind alles wichtige Themen.
Aber man muss auch sagen: Die Hoffnung, dass aus dem Prozess heraus es eine Debatte geben könnte, hat sich bislang nicht erfüllt, aber das bedeutet nicht, dass wir diese Hoffnung aufgeben. Ich glaube, ich spreche für viele meiner Anwaltskolleginnen und -kollegen: Wir glauben an den Rechtsstaat, wir glauben an das Gericht. Aber ich glaube, wir können daraus mehr machen.
Wir haben eine Katastrophe erlebt, wir müssen diese Katastrophe als Katharsis verstehen - die Läuterung unserer Seele durch eine Katastrophe. Und diese Chance haben wir noch, diese Hoffnung haben wir noch, und ich habe diese Hoffnung nicht aufgegeben.
Pokatzky: Sie beschreiben in dem "Zeit"-Artikel auch, wie die Bilder von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf Sie gewirkt haben - erst die harmlos-niedlichen Kinder- und Jugendfotos und dann später ihre hasserfüllten Gesichter und die Hände zum Hitlergruß erhoben. Wie konnten aus diesen Kindern Mörder werden, fragen Sie in Ihrem Artikel. Haben Sie inzwischen wenigstens Ansätze für eine Antwort gefunden?
Auf unsere eigene Wortwahl achten
Daimagüler: Ja, das ist ein Phänomen, das ich ja immer wieder erlebe, ja, dass die NSU-Täter oder die mutmaßlichen NSU-Täter so als quasi Monster dargestellt werden, die über uns hergefallen sind. Nein, das sind Kinder unseres Landes, das sind Kinder aus der Mitte unserer Gesellschaft. Und sie sind nicht so auf die Welt gekommen, sondern sie wurden so gemacht, von uns, von Eltern, von Nachbarn, von Vorbildern und Pseudo-Vorbildern. Und die sind eben in einer gesellschaftlichen Umgebung aufgewachsen, die davon geprägt war, wie über Migranten damals gesprochen wurde, Anfang der 90er-Jahre, da war eben das Boot voll, da schaffte sich Deutschland ab, da ging Deutschland kaputt, da hatten wir ein klares Feindbild definiert, und zwar eben nicht von NPD-Abgeordneten, die sowieso, sondern eben in der Sprache von Politikern unserer gesellschaftlichen Mitte.
Ich erwarte von unseren demokratisch gewählten Abgeordneten, dass wir einfach unsere eigene Wortwahl achten. Wie muss es denn auf junge Menschen, die vielleicht in ihrer Sozialisation und Politisierung noch unsicher sind? Wie muss es denn auf die wirken, wenn ein Ministerpräsident sagt, dass er bis zur letzten Patrone gegen die Einwanderung in die Sozialkassen kämpfen wird? Was bedeutet das, was bedeutet diese Wortwahl? Wozu wird denn hier implizit aufgerufen?
Pokatzky: Sie meinen damit, das sollten wir jetzt sagen, bevor sich 15 andere Ministerpräsidenten jetzt davon distanzieren hoffentlich, Sie meinen damit den bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer bei seiner Aschermittwochsrede 2011?
Daimagüler: Wissen Sie, ich möchte jetzt gar nicht Seehofer-Bashing machen. Es geht mir gar nicht um ihn als Person, sondern um das Phänomen. Wie reden wir? Und wenn Sie sich mal anschauen in den Debatten der letzten Monate, wie wir über Flüchtlinge vom Balkan reden, wie wir über Sinti und Roma sprechen - das ist ja kein Phänomen, das wir nur in der CSU finden, sondern das ist ja quer durch die Parteienlandschaft, und zwar von durchaus honorigen Männern und Frauen, die man in anderen Kontexten ja sehr, sehr schätzen kann und darf und muss manchmal.
Also es geht mir nicht um die oder jene Person oder die oder jene Partei, sondern wir sollten alle darauf achten, wie wir reden, wie wir urteilen und welche Vorbilder wir unseren Kindern abgeben. Und da ist niemand davor gefeit, eben kein Vorbild zu sein, mich eingeschlossen.
Pokatzky: Danke für die offenen Worte, Mehmed Damiagüler, einer der Opferanwälte und Vertreter der Nebenklage im Münchener NSU-Prozess. Einen schönen Tag noch! Tschüss!
Daimagüler: Danke, Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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