NSU-Opfer unter Verdacht

Von Esther Dischereit · 18.04.2013
Jahrelang waren die Bewohner der Keupstraße in Köln das Ziel unfairer Ermittlungen, kritisiert Kutlu Yurtseven. Seit der Anschlag von 2004 dem rechtsextremen NSU zugeordnet wird, hilft der Kölner Musiker den Menschen dort, mit ihrer Trauer und Enttäuschung umzugehen.
Zur Zeit des Nagelbomben-Anschlags in Köln im Jahr 2004 war Kutlu Yurtseven Anwohner in der Keupstraße. Er hat acht Jahre dort gelebt:

"Die Keupstrasse ist so etwas wie das Mekka für türkische Süßwaren, für Backwaren, für Essen. Auf der Straße ist immer was los."

Kutlu Yurtseven durfte an diesem Tag nicht mehr passieren. Er sah den ersten Verletzten, einen Kollegen, mit dem er Fußball gespielt hatte.

"Man fragt sich natürlich, was passiert in den Läden, mit den Freunden. Das war vier, fünf Stunden nach dem Attentat. Man hat die Panik gespürt. Da war ein Lastwagen: Der ganze Druck und die Nägel wurden ja von einem Kleinlaster abgefangen, sonst wäre gewiss jemand gestorben."

Die Keupstraße war immer schon eher eine Gegend, die ehemals Eingewanderte oder Ausländer bevorzugten. Nach dem Anschlag ging der Anteil der Deutschen, die hierher kamen, gegen Null. Die Geschäftsleute hatten nicht nur die Angst zu verarbeiten, sie erlitten in den folgenden Jahren auch erhebliche finanzielle Einbußen. Was das Menschliche betrifft, sagt Kutlu Yurtseven, war der Skandal,

"dass wir ganz schnell an den Pranger gestellt wurden, und es hieß, das war ein innertürkischer Konflikt, die türkische Hisbollah, die PKK, die Schutzgeld-Mafia oder Händler, die sich untereinander nicht verstehen. Das war ja keine faire Ermittlung."

Bewohner der Keupstraße am Pranger
Die bloße Zugehörigkeit zur Keupstraße, zu Freunden, zu Geschäftsleuten, genügte, um Verdachtsmomente aufkommen zu lassen. Kutlu Yurtseven erzählt die Geschichte einer Dame, deren Mann politisch aktiv war und die sofort in den Kreis der Verdächtigen geriet. Das SEK hatte sie und ihr Kind bereits anderthalb Stunden nach dem Anschlag besucht; eine Begegnung, von der sie sich bis heute nicht erholt haben. Yurtseven sagt, sie sind traumatisiert. Sie haben noch heute Angst vor der Polizei.

Zusammen mit Freunden hat er eine Filmreihe gestartet. Das Besondere an dem sogenannten Keupstraßenkino, das Anfang April zu Ende gegangen ist, bestand darin, dass die Veranstaltungen in Läden, Cafés und Restaurants stattfanden. Mit Unterstützung des Vorsitzenden der Interessengemeinschaft Keupstraße, Mitat Bey, gewannen sie das Vertrauen der Bürger, und schließlich kamen immer mehr Leute zusammen. Nach der Vorführung sprachen sie nicht nur über die Filme, sondern über sich und ihre Erlebnisse.

Das Kino hilft aufzudecken, weil die Leute kommen und Mut fassen und selbst zu reden beginnen. Über ihr eigenes Erleben, wie sie nicht nur Opfer des Anschlags wurden, sondern auch unter den Ermittlungen der Polizei litten. Kutlu Yurtseven will zeigen, wie perfide dieser Vorgang war und wie wichtig es ist, diese Dinge auszusprechen, damit sie sich nicht wiederholen.

Von den Behörden im Stich gelassen
Die Situation für die Leute war schier ausweglos, sagt er:

"Viele haben Angst, weil sie sagen, bei wem sollen wir uns denn beschweren. Wir beschweren uns über die Polizei bei der Polizei? Das geht ja nicht. Wir wurden ja schon von Behörden und unseren Mitmenschen im Stich gelassen. Darum müssen wir zu den Leuten hingehen und sie fragen."

Für Kutlu Yurtseven ist es wichtig,

"dass das aus der Sicht der Betroffenen dargestellt wird und nicht immer von oben herab. Sie sind jetzt nicht nur in der Opferrolle, die sie ja leider haben müssen, sondern sie sind jetzt auch zum Teil in der Klägerrolle und sagen, das wurde mit uns gemacht. Das habt ihr verschwiegen, ihr habt uns circa acht Jahre leiden lassen, obwohl ihr nach einer Zeit wusstet, was die Wahrheit ist und darum geht's."

Viele der Anwohner der Keupstraße haben sich jetzt Anwälte genommen und sind Nebenkläger in dem bevorstehenden NSU-Prozess. Kutlu Yurtseven und seine Freunde organisieren weiter Gespräche – vielleicht werden sie einen Dokumentarfilm machen, der Zeugnis gibt über die Ereignisse in der Keupstraße, über die anhaltenden Verdächtigungen der Ermittlungsbehörden gegenüber den Opfern und darüber, dass es bis heute kein Angebot für die Traumatisierten gibt – und - keine Entschuldigung.

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