NSA hört Kanzleramt ab

Es gibt keine Freundschaft unter Staaten

Die Portraits von Angela Merkel, Gerhard Schröder und Helmut Kohl werden aufgerichtet.
Angela Merkel, Gerhard Schröder und Helmut Kohl: Alle wurden wohl vom US-Geheimdienst NSA abgehört © pa/dpa
Henning Riecke im Gespräch mit Anke Schaefer und Christopher Ricke · 09.07.2015
Die Abhöraktionen der USA gegen die Bundesregierung sind offenbar umfangreicher als bislang bekannt. Laut WikiLeaks forschte der US-Geheimdienst NSA über Jahrzehnte hinweg das Kanzleramt aus. Henning Riecke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sieht das nüchtern.
Der US-Geheimdienst NSA hat neuen Veröffentlichungen der Enthüllungsplattform WikiLeaks zufolge weitaus länger und intensiver deutsche Spitzenpolitiker und Regierungsstellen ausspioniert als bislang bekannt. So sei das Bundeskanzleramt über Jahrzehnte abgehört worden, berichtete WikiLeaks. Betroffen sind neben Bundeskanzlerin Angela Merkel offenbar auch bereits die Vorgängerregierungen unter den Kanzlern Helmut Kohl und Gerhard Schröder.
Direkte Spionage ist ärgerlich und vertane Zeit
Die direkte Spionage sei ärgerlich und vertane Zeit, betonte Henning Riecke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, im Deutschlandradio Kultur. Der Programmleiter USA / Transatlantische Beziehungen sagte, er könne sich vorstellen, dass es jetzt eine Bewusstseinsbildung bei den Amerikanern gebe.
Direkte Spionage bringe nicht so viel wie eine gute Kooperation – besonders nicht dann, wenn das Ausspähen auffliege. Und auch in den USA gebe es eine Diskussion über den Umgang mit Partnern und Kritik am bisherigen Vorgehen, so Riecke.
Zugleich betonte der Experte, dass ein Grund für die NSA-Spionage auch darin liegen könne, dass die Amerikaner die Deutschen besser einschätzen können würden wollen.
Deutschland ist wichtig - das haben viele Deutsche noch nicht verstanden
"Wir sind ein wichtiges Land, und das haben viele Deutsche selber noch nicht so ganz verstanden. Aber die Amerikaner wissen das schon sehr lange. Und das die Amerikaner sich für uns interessieren, das überrascht mich überhaupt nicht, dass sie verstehen wollen, was bei uns passiert. Denn vieles von dem, was deutsche Befindlichkeiten sind – dass wir vorsichtig sind mit dem Militär und dass wir Angst vor Inflation haben – das wissen die nicht automatisch."
Er habe ein Problem mit den Begriffen Freundschaft und Vertrauen in zwischenstaatlichen Verhältnissen, sagte Riecke. Ein anderer Staat sein kein Ehemann oder Freund. Staaten seien komplexe Gebilde mit unterschiedlichen Akteuren und wechselnden Regierungen. Vertrauen könne es natürlich auf einer persönlichen Arbeitsebene geben. Aber zwischen den Staaten selbst regierten vor allem Interessen.
WikiLeaks veröffentlicht Nummern von 125 überwachten Anschlüssen
WikiLeaks veröffentlichte am Mittwochabend weitere 56 Telefon- und Faxnummern aus dem Kanzleramt, die abgehört worden seien. Zusammen mit den in der vergangenen Woche veröffentlichten Nummern umfasst die Liste inzwischen 125 offenbar überwachte Anschlüsse.
Die Liste umfasst WikiLeaks zufolge Telefonnummern von Merkel und engsten Mitarbeitern, darunter ihrer Büroleiterin und Vertrauten Beate Baumann, Kanzleramtsminister Peter Altmaier und Geheimdienstkoordinator Klaus-Dieter Fritsche. Auch die Nummern von Unionsfraktionschef Volker Kauder und des früheren Kanzleramtsministers Ronald Pofalla stehen darauf.
Schon in der vergangenen Woche hatte WikiLeaks Unterlagen mit Deutschland-Bezug veröffentlicht, darunter 69 Nummern. Unter anderem soll laut diesen Enthüllungen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und sein Ministerium Ziel von Ausspähung gewesen sein. Die Bundesregierung hatte daraufhin US-Botschafter John B. Emerson ins Kanzleramt einbestellt.
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