NSA-Affäre

Ohne Empörung kein Skandal

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft
Bernhard Pörksen beklagt, dass die Gesellschaft sich an den Verlust der Privatheit bereits zu sehr gewöhnt hat © picture alliance / ZB - Karlheinz Schindler
Bernhard Pörksen im Gespräch mit Dieter Kassel  · 30.04.2015
Der amerikanische Geheimdienst NSA hat den BND dazu benutzt, in Deutschland und Europa Spionage zu betreiben. Die Bundesregierung soll davon gewusst haben. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erklärt, warum die deutsche Öffentlichkeit den Fall noch nicht als Skandal begreift.
Jede Affäre braucht ein Gesicht, sagt Bernhard Pörksen."Die Abhöraktion gegenüber dem Handy der Bundeskanzlerin war dann ein solcher Versuch, Personalisierbarkeit in das ganze Geschehen zu bringen." Auch jetzt sei zu beobachten, dass mit Verteidigungsminister Thomas de Maiziere (CDU) eine Person in den Mittelpunkt des Skandals rücke. "Die Leitfrage scheint zu sein, fällt er, stürzt er oder kann er bleiben." Dabei würden Grundgesetze menschlicher Wahrnehmung am konkreten Fall im Skandalisierungsgeschehen offenbar.
Grundgesetze menschlicher Wahrnehmung
Die erfolgreiche Skandalisierung in den Medien benötige ein Gesicht der Affäre, sagte Pörksen. Auf diese Weise griffen die Grundgesetze der menschlichen Wahrnehmung. Das Publikum übertrage vertraute Alltagserfahrungen auf ein medial vermitteltes Geschehen. Für eine erfolgreiche Skandalisierung seien drei Schritte nötig: Zuerst gebe es eine Normverletzung, die irgendjemand auffalle. Dann folge die Entscheidung über die Veröffentlichung und die kollektive Empörung des Publikums.
Nervenkostüm einer Gesellschaft
"Das macht es so interessant, Skandale zu analysieren", sagte der Medienwissenschaftler. "Sie lernen gleichsam allgemein menschliche Wahrnehmungsmuster und das Nervenkostüm einer Gesellschaft kennen. Was funktioniert erregungstechnisch und was funktioniert nicht?" Die Reaktion des Publikums spiele beim Skandal eine zentrale Rolle: "Ein Skandal stirbt, wenn die Menschen im Lande sich nicht dafür interessieren." Deshalb sei gerade für diese hochgradig abstrakten Ausspähskandale eine "neue Form der Skandal-Didaktik" wichtig. "Es muss Menschen geben, Datendichter geben, die uns dieses abstrakte, ungreifbare prozesshafte Geschehen gleichsam übersetzen", sagte Pörksen. Die Gesellschaft habe sich allerdings schon viel zu sehr an den Verlust der Privatheit gewöhnt, wie das Medienverhalten zeige.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Wenn ein Politiker bei seiner Doktorarbeit abgeschrieben hat, schwarz eine Putzfrau beschäftigt oder sich von einem befreundeten Unternehmer finanziell unter die Arme greifen lässt, dann wird das schnell zum Skandal. Die Folge ist meist nicht nur ein Rücktritt, sondern das komplette Ende der politischen Karriere. Das haben wir mehrfach erlebt in Deutschland. Wenn aber der Geheimdienst eines befreundeten Staates den Bundesnachrichtendienst dazu benutzt, von Deutschland aus befreundete Staaten, Politiker in Frankreich zum Beispiel oder die die EU auszuspionieren und auch Industriespionage zu betreiben und die Bundesregierung davon weiß, aber es verschweigt, dann, nun ja, wird darüber kritisch berichtet, aber ist die jeweilige Skandalisierung dem Sachverhalt angemessen? Fragen dazu jetzt an Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Morgen, Herr Pörksen!
Bernhard Pörksen: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Kassel: Wo liegt der Unterschied zwischen einer abgeschriebenen Doktorarbeit und dem, was wir jetzt im Zusammenhang von NSA, BND und Bundesregierung erleben?
Pörksen: Der Unterschied liegt darin, dass wir bei der abgeschriebenen Doktorarbeit eine Person vor Augen haben, also dass sich im Prozess der Skandalisierung das ganze Geschehen rückführen lässt auf eine konkrete Person, dass es ein Gesicht der Affäre gibt. Und dieses Gesicht brauchen wir. Sie sehen an solchen Skandalisierungsprozessen, die erfolgreich sind, die greifen gleichsam die Grundgesetze der menschlichen Wahrnehmung, nämlich eine Orientierung am Konkreten, am Punktuellen und am Personalisierbaren.
Kassel: Hat es vielleicht auch damit zu tun, dass man selber versteht, was getan wurde: abgeschrieben, irgendetwas als das Eigene verkauft, was nicht das Eigene ist, hat ja vielleicht fast jeder schon mal, wenn auch nicht unbedingt immer bei einer Doktorarbeit?
Pörksen: Unbedingt. Hier übertragen wir gleichsam eigene oder fremde Alltagserfahrungen, aber auf jeden Fall vertraute Erfahrung auf ein uns nicht zugängliches beziehungsweise nicht direkt zugängliches, allein medial vermitteltes Geschehen. Und man muss vielleicht noch etwas anderes sagen: Eine Skandalisierung, eine erfolgreiche Skandalisierung erfolgt in der Regel nach einem einfachen Dreischritt: Zuerst gibt es eine Normverletzung, die irgendjemand auffällt, und dann folgt die Entscheidung über die Veröffentlichung dieser Normverletzung und schließlich die kollektive Empörung des Publikums.
Also dieser Dreischritt, Normverletzung, Publikation, Publikumsempörung, den muss es immer geben. Und wir sehen, wenn wir diese Kriterien in Stellung bringen, eben, wie unterschiedlich Skandale funktionieren oder auch nicht funktionieren, denn im Falle der NSA-Affäre, im Falle dieser ganzen Ausspähskandale, die uns ja faktisch alle betreffen, hat es zwar die Normverletzung gegeben, ganz klar, hat es die Veröffentlichung gegeben, auch das ist offensichtlich, aber die kollektive Empörung des Publikums bleibt in dieser Massiertheit, in dieser Intensität schlicht und einfach aus.
Das Handy der Bundeskanzlerin
Kassel: Aber wenn Sie sagen, es muss auch mit einem konkreten Menschen zu tun haben: Ein Teil des NSA-Skandals war ja auch in den vergangenen Jahren das Abhören des Handys der Bundeskanzlerin. Die Bundeskanzlerin ist nun eine sehr konkrete Person.
Pörksen: Unbedingt, da haben Sie völlig recht. Und genau an diesem Beispiel lässt sich zeigen, ja, hier hat ein einfaches narratives Muster gegriffen, und da hat sich noch einmal die Aufmerksamkeit entzündet. Und sonst gab es ja auch den aus meiner Sicht, sozusagen skandaltechnisch gesprochen, kontraproduktiven Versuch, nun Edward Snowden gleichsam zum Gesicht dieses Geschehens zu machen. Also so eine Art David-gegen-Goliath-Narrativ, eine David-gegen-Goliath-Geschichte nach dem Motto, Einzelner, vergleichsweise Ohnmächtiger, der nur seinem Gewissen folgt, fordert eine Weltmacht heraus. Aber dieses narrative Muster hat sich lange, aus meiner Sicht ein bisschen zu lange, vor das eigentliche Geschehen geschoben, und die Abhöraktion gegenüber dem Handy der Bundeskanzlerin war dann ein solcher Versuch, Personalisierbarkeit in das ganze Geschehen zu bringen.
Kassel: Das wird ja jetzt auch wieder versucht. Die Person, um die es jetzt stark geht, ist Thomas de Maizière, der gelogen haben soll – auch aus juristischen Gründen formuliere ich das vorsichtig. Die Bildzeitung hat ihn gestern schon mit Pinocchio-Nase gezeigt, er selber bestreitet ja aber, gelogen zu haben. Könnten Sie sich jetzt vorstellen, dass von der Frage, wie heikel ist das, was NSA und BND gemacht haben, der Fokus sich verschiebt auf die Frage, muss jetzt de Maizière gehen oder nicht?
Pörksen: Unbedingt. Genau das können wir ja heute beobachten. Wenn Sie die aktuelle Nachrichtenlage sich anschauen, dann sehen Sie genau, hier rückt jetzt eine Person ins Zentrum, und die Leitfrage scheint zu sein, fällt er, stürzt er oder kann er bleiben. Das sind Leitfragen, die noch einmal zeigen, hier werden Grundgesetze der menschlichen Wahrnehmung am konkreten Fall, am konkreten Skandalisierungsgeschehen offenbar. Und das macht es, nebenbei erwähnt, so interessant, Skandale zu analysieren. Sie lernen gleichsam allgemein-menschliche Wahrnehmungsmuster und das Nervenkostüm einer Gesellschaft kennen. Was funktioniert erregungstechnisch, und was funktioniert nicht?
Kassel: Wer macht den Skandal am Ende? Das Ereignis selber, die Person, die sich dazu verhalten muss, die betroffene, oder sind es doch die Medien?
Pörksen: Ich glaube, es sind verschiedene Player, wenn Sie so wollen, verschiedene Elemente. Auf der einen Seite ja, das Geschehen selbst, dann die Art und Weise der Veröffentlichung, also wo wird es gebracht, in welcher Prominenz und in welcher Intensität, und schließlich aber auch, ganz wichtiges Element, die Reaktion des Publikums. Also, das Publikum muss sich zuschalten, es muss das Empörungsgeschehen mit der nötigen Wucht versorgen. Ein Skandal stirbt, wenn die Menschen im Lande sich nicht dafür interessieren.
Und das bedeutet also, wenn wir jetzt mal einen Moment lang gewissermaßen überlegen, was könnte man eigentlich tun – wir brauchen, was diese hochgradig abstrakten, ungreifbaren Ausspähskandale angeht, eigentlich eine neue Form der Skandaldidaktik. Es muss Menschen geben, Datendichter geben, die uns dieses abstrakte, ungreifbare, prozesshafte Geschehen gleichsam übersetzen, es in narrative Strukturen überführen, die uns dann eben doch vielleicht zu Recht betroffen machen.
Den Ausspähskandal erzählen
Kassel: Aber wie könnte das gehen? So ein Vorgang wie – wir reden ja von Vektoren, wir reden von Datensätzen, von Millionen von IP-Adressen, die die NSA dem BND geschickt hat, damit er von Bad Aibling aus der Sache nachgeht – das ist ja alles sehr abstrakt. Wie könnte man denn daraus diese Narrative schaffen, von denen Sie sprechen?
Pörksen: Ich glaube, es geht nur, indem man wirklich diese Grundgesetze menschlicher Wahrnehmung beachtet und sich fragt, wie lässt sich das Ganze konkretisieren? Wie lässt es sich auf einen oder mehrere Punkte fokussieren? Wie lässt sich diese ganze Geschichte, wie lässt sich ein solcher Ausspähskandal entlang von Personen erzählen. Die Ausspähaktion des Handys der Bundeskanzlerin war ein solcher Effekt, die Geschichte über einen Geschäftsmann, der womöglich nicht in die USA einreisen kann, weil er nun irgendwelche Mails geschrieben hat, die ihm nun zum Verhängnis werden. All das wären mögliche Ansatzpunkte, nun hier den Grundformen menschlicher Wahrnehmung Genüge zu tun, was ein solches abstraktes Geschehen betrifft, das aber hochgradig relevant ist.
Kassel: Machen die Medien es sich vielleicht da auch manchmal zu einfach, wenn sie spüren – man spürt das heute ja sehr schnell anhand von Klicks im Internet, Einschaltquoten, die beim Fernsehen auf die Viertelstunde genau, auf die Minute genau gemessen werden, wenn sie merken, das Publikum geht da nicht mit bei unserer Idee, dass das ein Skandal ist –, dass sie dann zu schnell aufhören zu berichten?
Pörksen: Ich finde, in dem Fall kann man eigentlich den Medien keinen pauschalen Vorwurf machen, insbesondere nicht im deutschsprachigen Raum. In anderen Ländern wurde da ganz anders und sehr viel, sag ich mal, entspannter berichterstattet. Nein, wir haben ja seit Monaten, wir haben seit Jahren eine Auseinandersetzung mit der NSA-Affäre, aber die greift eben nicht so richtig. Und letztlich, dieses Empörungsgeschehen entfaltet sich in einem, wenn Sie so wollen, Dreiecksverhältnis. Auf der einen Seite der eigentliche Anlass, das eigentliche Thema. Dann die Art und Weise, wie Journalisten darüber berichten, und schließlich die Reaktion oder Nichtreaktion des Publikums.
Und wir müssen sagen, ich glaube, wir haben uns als Gesellschaft schon viel zu sehr im Grunde genommen an den Verlust der Privatheit gewöhnt. Wenn Menschen gefragt werden, Stichwort Privacy-Paradox, dann werden sie in jeder Umfrage behaupten, ja, ja, Privatsphäre ist mir unendlich wichtig. Wenn wir aber unser aktuelles, unser tatsächliches Medienverhalten beobachten, dann sehen wir, wir posten gewissermaßen unseren Gedankenstrom in Form von Twitter, in sozialen Netzwerken. Also, wir verhalten uns nicht nach gewissermaßen dieser Grundansage oder dieser Grundbehauptung, Privatsphäre ist uns unendlich wichtig. Und auch dies zeigt sich in der Art und Weise, wie wir selbst mit dieser Affäre umgehen, uns aufregen oder eben auch nicht.
Kassel: Der Medienwissenschaftler Professor Bernhard Pörksen darüber, wie manches zum Skandal wird und manches möglicherweise völlig zu Unrecht dann doch nicht. Herr Pörksen, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Pörksen: Ich danke Ihnen!
Kassel: Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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