NS-Verbrechen

Mord verjährt nicht

Eine Zeugenbefragung während eines Standgerichtsprozesses im März 1958. Den Angeklagten wird vorgeworfen, ungerechtfertigte Todesurteile vollstreckt zu haben.
Ein Standgerichtsprozess von 1958 wegen ungerechtfertigter Todesurteile während der Nazi-Zeit. © dpa / picture alliance / Karl Schnoerrer
Von Winfried Sträter · 10.03.2015
Für die Massenmorde während der Naziherrschaft gibt es keine Verjährungsfrist. Dabei sollte diese ursprünglich schon vor 50 Jahren enden. Doch am 10. März 1965 gab es im Deutschen Bundestag eine bemerkenswerte Debatte über die Verlängerung der Frist, die NS-Verbrechen und die Verantwortung der Deutschen.
Ewald Bucher: "Es gibt kaum eine Frage, die in letzter Zeit die Gemüter im In- und im Ausland so sehr bewegt hat wie die Frage der Verjährung der NS-Verbrechen."
Mit diesen Worten eröffnete Bundesjustizminister Ewald Bucher am 10. März 1965 eine der eindrucksvollsten Debatten in der Geschichte des Deutschen Bundestages. Am 8. Mai, 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, drohten nach geltendem Recht die Morde der NS-Zeit zu verjähren. Mörder, die danach aufgespürt worden wären, hätten nicht mehr belangt werden können. Im In- und Ausland stieg jedoch der Druck, die Verbrechen nicht verjähren zu lassen.
Eine schwere Entscheidung
"Es ist wohl kaum eine Entscheidung in den 16 Jahren Bundestag so schwer gewesen und so zum Leiden gewesen wie diese", hob Adolf Arndt hervor, der Rechtsexperte der SPD. Er griff die allgegenwärtigen Versuche an, die historischen Verbrechen hinter der nunmehr bürgerlichen Fassade der Täter verschwinden zu lassen.
Arndt: "Ein Mann, der vor den Augen der Mutter einen Säugling an den Füßen nimmt und mit dem Kopf am nächsten Eisenpfahl zerschmettert, ein Mann, der dabei mitwirkt, dass die Gefangenen sich an die von ihnen selbst aufgeworfene Grube knien müssen, dann bekommen sie den Genickschuss, und dann kommt die nächste Lage hinein, so dass noch tagelang die Blutfontäne aus diesem Massengrab kommt, – da kann man nicht sagen: Was hat der heute noch mit seiner Tat zu tun?"
Alle Redner versicherten sich des gegenseitigen Respekts und des Abscheus vor den Verbrechen. Trotzdem kamen die Gegensätze deutlich zur Sprache, auch der verbreitete Versuch, die Nation pauschal in Schutz zu nehmen. Rainer Barzel, der Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU sagte:
"Dieses deutsche Volk ist nicht kollektiv schuldig geworden. Wir haben uns immer zu diesem Volk, zu seiner ganzen Geschichte bekannt wie auch zur Ehre des deutschen Soldaten. Auch das werden wir weiter tun."
"Verjährung verzichtet wegen Rechtssicherheit und Rechtsfrieden auf letzte Gerechtigkeit"
Der juristische Kern der Debatte war die Frage, ob die Verjährung im Nachhinein verlängert werden konnte - oder ob das rechtsstaatswidrig sei. Die meisten Redner der CDU-FDP-Koalition beharrten auf diesem Standpunkt – auch der ehemalige Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP):
"Die Verjährung hat einen tiefen rechtspolitischen Sinn, auch bei den Straftaten, die wir hier im Auge haben. Die Verjährung verzichtet der Rechtssicherheit, des Rechtsfriedens wegen auf die letzte Gerechtigkeit."
Widerspruch kam von dem jungen CDU-Abgeordneten Ernst Benda, dem späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Er sah eine Verletzung fundamentaler Rechtsgrundsätze, wenn die Verjährung in Kraft treten würde:
"Für die Antragsteller steht über allen Erwägungen juristischer Art, steht ganz einfach die Erwägung, dass das Rechtsgefühl eines Volkes in unerträglicher Weise korrumpiert werden würde, korrumpiert werden müsste, wenn Morde ungesühnt bleiben müssten. Wenn Morde ungesühnt bleiben müssten, obwohl sie gesühnt werden können."
"Dem Gebirge an Schuld und Unheil nicht den Rücken kehren"
Die Unruhe im Parlament verriet, welche Bedeutung die Verjährungsdebatte hatte: Mit ihr sollte endlich ein Schlussstrich gezogen werden, damit man von der Vergangenheit nicht mehr eingeholt werden konnte. Dagegen richtete sich der Appell von Adolf Arndt am Schluss seiner Rede:
"Es geht darum, dass wir gegenüber dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, wir nicht den Rücken kehren, sondern dass wir uns als das zusammenfinden, was wir sein sollen: kleine, demütige Kärrner, Kärrner der Gerechtigkeit, nicht mehr."
Kompromiss ermöglicht spätere Entscheidung: Mord verjährt nicht
Am Ende drückte sich der Bundestag um eine klare Entscheidung. Am 25. März 1965 stimmte die große Mehrheit der Parlamentarier für den Kompromiss, den Beginn der Verjährungsfrist auf 1949 zu verschieben, auf die Staatsgründung der Bundesrepublik. So konnten die Mörder weiter belangt werden, die Verjährungsfrage blieb auf der Tagesordnung. Endgültig gelöst hat sie der Bundestag erst 1979, als er beschloss, dass Mordtaten nicht verjähren.
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