NS-Aufarbeitung in Bayreuth: Katharina ist "diejenige, die blockiert"

Hannes Heer im Gespräch mit Joachim Scholl · 30.07.2012
Der Historiker Hannes Heer hält die Ankündigung Katharina Wagners, die Familien-Archive zur Aufarbeitung der Nazi-Zeit öffnen zu wollen, für unglaubhaft. Heer betonte, seiner Erfahrung nach bleibe bei ihr "nicht mehr viel übrig von dem, was sie gesagt hat".
Joachim Scholl: Dass die Familie Richard Wagners tief verstrickt im Nationalsozialismus mit seinen Protagonisten, mit seinem Ungeist war, das ist hinlänglich bekannt. Wie genau allerdings, in welchen Nuancen und persönlichen Details wird wohl erst deutlich werden, wenn alle Familienarchive geöffnet werden. Das ist aber längst noch nicht der Fall. Wie auch der Historiker Hannes Heer beklagt. Er hat die Ausstellung über jüdische Musiker in Bayreuth mit verantwortet, die derzeit unterhalb des Grünen Hügels zu sehen ist. Und er ist uns jetzt aus einem Studio in Hamburg zugeschaltet, guten Tag, Herr Heer!

Hannes Heer: Guten Tag, Herr Scholl.

Scholl: Seit Tagen werden die Stimmen immer lauter, die eine vollständige Öffnung aller Familienarchive fordern. Zuletzt forderte das der Kulturstaatsminister Neumann. Um welche Archive welcher Familienmitglieder geht es hier eigentlich konkret?

Heer: Es gibt einen Komplex, der vollkommen entzogen ist der Öffentlichkeit. Da weiß man noch nicht mal genau, was drin ist, außer, dass das der Nachlass Winifred Wagners und Siegfried Wagners wahrscheinlich dort zu finden sein wird.

Und es gibt ein Familienarchiv im Privatarchivnachlass Wolfgang Wagner, der schon in der Vergangenheit benutzt worden ist von Brigitte Hamann, die ein sensationelles Buch über Hitlers Bayreuth verfasst hat. Allerdings nur das Material zur Verfügung gestellt, was Wolfgang Wagner Brigitte Hamann ausgehändigt hat. Und dieses Archiv ist im Moment in Händen, wie Katharina Wagner sich ausdrückte, eines Historikers oder zweier Historiker ihres Vertrauens, ist also auch der Öffentlichkeit entzogen.

Scholl: Die Enkelin Nike Wagner, sie spricht von ominösen vier Stämmen der Familie, das klingt recht germanisch-archaisch. Gibt es das also wirklich, also mehrere Familienstränge, die sich scharf voneinander unterscheiden und bedacht darauf sind, den eigenen Stamm, ja, auf diese Weise auch zu schützen?

Heer: Also, wenn ich als Historiker mir diese Familiengeschichte, die neuere, anschaue, dann kann ich sagen, das Ganze erinnert einen an die Merowinger-Zeit, also eine düstere Zeit in unserer Geschichte, in der Gift und Dolch die üblichen Kommunikationsmittel waren. Alle diese verfeindeten Stämme wollen natürlich, dass die Archive geöffnet werden, aber meist die Archive der anderen. Es geht um die Deutungshoheit der Geschichte, die sie als Familiengeschichte begreifen, die längst natürlich Geschichte der deutschen Kultur, Geschichte der deutschen Politik ist.

Scholl: Es ist in diesem Zusammenhang immer von einem geheimnisvollen weißen Schrank die Rede, im Besitz der Cousine Amelie, die eben den Nachlass von Winifred Wagner bewacht. Winifred hat 1976 ihr diesen Nachlass überlassen. Was ist denn in diesem Schrank? Oder was denkt man denn, was drin ist?

Heer: Also das letzte, der weiße Schrank, ist natürlich eine Fantasie. Das kann ein Tresor sein, das kann ein Kellerraum sein, alles Mögliche. Was man weiß, ist, wie das Material dorthin gekommen ist. Das ist sozusagen in einer Nacht- und Nebelaktion von Winifred, die ihren beiden Söhnen Wieland und Wolfgang spätestens nach der Inszenierung von Patrice Cheraus Ring nicht mehr getraut hat.

Die hat also dann ihren VW oder einen VW-Bus, das weiß man nicht genau, vollgeladen mit brisantem, giftigem Material, und hat das nach München transferiert und es dort ihrer Tochter übergeben, zu der sie Vertrauen hatte, Verena Laverenz, die mit einem hohen Nazi verheiratet war, der die Festspiele ab 1940 dann als KDF, Kraft-durch-Freude-Festspiele, Kriegsfestspiele organisiert hat. Das weiß man.

Ich vermute, ich habe das eingangs schon gesagt, dass dort die brisanten Nachlässe von Winifred selber und von Siegfried Wagner vorhanden sind. Ob man aber an diesen Schrank je herankommen wird, was dann drin zu finden sein wird, ein fauler Apfel oder ein Kassiber, wo drauf steht "Ätsch Bätsch", das weiß man nicht. Der Kampf um diesen Nibelungenschatz, der währt schon lange. Alle Familienmitglieder, alle Vertreter der vier merowingischen Stämme beteuern immer, sie haben ein Interesse daran, aber alle tun auf ihre Weise den eigenen, das eigene Familienarchiv, in dessen Besitz sie sind, halten sie von der Öffentlichkeit fern.

Scholl: Katharina Wagner hat jetzt betont, dass also jene Cousine schon öfter von ihrem Anwalt angeschrieben worden sei, doch bitte jetzt mal hier Einblick zu gewähren, und es wäre niemals eine Antwort gekommen. Jetzt mach was.

Heer: Also bei Katharina Wagner muss man alles, das ist meine Erfahrung seit einem Jahr, auf die Goldwaage legen. Und da bleibt nicht mehr viel übrig von dem, was sie gesagt hat. Ich will ganz kurz darstellen, wie meine Erfahrungen mit ihr sind, die ja gestern noch in "Bild am Sonntag" erklärt hat: Ich selbst hatte und habe kein Problem, das in meinem Alleineigentum und Besitz befindliche Material in vollem Umfang der Öffentlichkeit zugänglich machen zu lassen. Das ist leider eine Absichtserklärung, von der nichts zu halten ist.

Ich habe das Projekt der Ausstellung seit 2006, eingeladen von Bayreuth, verfolgt, und seit 2006 weiß die Familie Wolfgang Wagner, dass es eine Ausstellung zu dem Thema Bayreuth und die Juden geben wird. Ich habe zwischendurch dem Pressesprecher Emmerich immer informiert, in welchem Stadium der Vorbereitungen wir sind, und als ich dann im August letzten Jahres, als wir mit der Recherche angefangen haben, um einen Termin bei Katharina Wagner gebeten habe, um zu klären, wie ich jetzt in das Archiv ihres Vaters gelangen kann, ist mir dieser Termin verweigert worden.


Ich habe dann den Bürgermeister der Stadt, der Träger, als Vorsitzender der Richard-Wagner-Stiftung Träger der Ausstellung war, gebeten, zu intervenieren. Daraufhin kam die Antwort, ich könne mit einem Anwalt reden, und der Anwalt würde die Interessen von Katharina vertreten, die ihr Material einem Historiker ihres Vertrauens ausgehändigt habe. Ich habe dann abgelehnt, als Privatmann mit diesem Kollegen ihres Vertrauens zu verhandeln, habe die Richard-Wagner-Stiftung, die Stadt wieder eingeschaltet.

Und die Stadt hat dann zwei E-Mails geschickt und gebeten, mir Zugang zu diesem Material zu verschaffen der Ausstellung halber. Darauf ist keine Antwort erfolgt. Dann hat die Richard-Wagner-Stiftung ebenfalls E-Mails geschickt an Herrn Siebenmorgen, so heißt dieser Vertrauenshistoriker. Darauf ist im März 2012, diesen Jahres, als wir unsere Recherche dann beendet hatten, eine Antwort erfolgt. Ich selber durfte das Material nicht anschauen, sondern es wurde der Vertreter des Richard-Wagner-Archivs, der Direktor, der wurde zugelassen nach Potsdam, erhielt von Herrn Siebenmorgen die Mitteilung: Da ist kein relevantes Material drin in dem Teil, den ich durchgesehen habe, nur Taxirechnungen und so weiter.

Das Material, was er nicht durchgesehen hat, das war der größere Teil, darüber konnte er keine Auskunft erteilen. Das heißt, wir haben uns, sind an dieses Material nicht herangekommen. Das heißt, diese Erklärung, sie will es voll zur Verfügung stellen, stimmt einfach nicht. Wir haben uns beholfen, indem wir die Kopien, die Brigitte Hamann gemacht hat, zehntausende Seiten, mit Erlaubnis von Wolfgang Wagner, die haben wir uns dann – kollegialerweise hat sie uns die zur Verfügung gestellt. Die haben wir dann abkopiert und damit haben wir die 20er-Jahre und die 30er-Jahre dann auch abdecken können.

Also, Katharina ist diejenige, die blockiert. Das sind zwei Historiker, von denen der eine eine Hindenburg-Biografie geschrieben hat, nicht ausgewiesen als Holocaust-Forscher oder Dritte-Reich-Experte. Der andere ist ein Journalist, also davon, von solchen Äußerungen, solchen Erklärungen ist nichts zu halten.

Scholl: Wie viel Wahrheit wollen die Wagners? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Hannes Heer. Wie schätzen Sie denn dann dieses Verhalten ein, Herr Heer? Geht es hier also doch eher um Familienprestige, persönliche Eitelkeiten, vielleicht auch Scham, weil man die eigene Familiengeschichte doch nicht bloßgestellt sehen möchte. Sind es eher solche Motive oder steckt da doch das, was scharfe Wagnerkritiker ja immer vermuten, ein tief sitzendes, reaktionäres politisches Bewusstsein dahinter, dass immer noch grummelt: Na ja, es war doch damals nicht alles schlecht?

Heer: Also. Ich denke, es steckt dahinter einmal eine irrationale Abwehr. Man möchte diese ganze Zeit von Richard Wagner über Cosima, den Schwiegersohn, Houston Stewart Chamberlain, einer der bedeutendsten sogenannten Rassentheoretiker des 20. Jahrhunderts, man möchte über Siegfried Wagner, man möchte nicht diskutieren. Weil das ist kontaminiertes Material.

Man möchte nicht in Debatten über die Verantwortung der Familie gezogen werden, und drittens, man möchte nicht, dass dieses ganze Material dann, was eigentlich aufgrund der öffentlichen Förderung der Bayreuther Festspiele notwendig wäre, aufgrund des Stiftungsvertrags sozusagen rechtlich erforderlich ist. Man möchte es nicht in Hände von unabhängigen Wissenschaftlern geben, weil dann Bayreuth in einem völlig anderen Licht erscheinen würde.

Scholl: Aber Herr Heer, Entschuldigung, wenn ich unterbreche, aber ich meine, dass sozusagen hier so viele Dreck am Stecken haben und diese ganze unselige Nazi-Vergangenheit, die ist doch hinlänglich bekannt, und auch die Protagonisten. Da kann man doch jetzt gar nichts mehr schützen. Die Frage ist ja auch, was kann denn auch noch in diesen Archiven, in diesen Dokumenten drin stecken, was jetzt unbedingt noch eine ganz große neue Erkenntnis über diese Verstrickung bringt?

Heer: Das Dritte Reich ist für mich gar nicht, ich denke, das ist gar nicht das Problem. Da hat also die Brigitte Hamann mit ihrem Standardwerk erst mal ein so helles Licht reingeworfen in diese dunkle Zone, sodass man da, abgesehen von ein paar Briefen und ein paar Verträgen und ein paar Abmachungen nicht mehr viel finden wird. Das Spannende ist die Zeit dazwischen. Das Spannende ist die Zeit dazwischen, also diese 50 Jahre Cosima, Siegfried, in der sozusagen die Vorgeschichte, mentale Vorgeschichte des Dritten Reiches zu besichtigen ist.

Das gesamte Bildungsbürgertum ist über Wagner und den Wagnerismus an den Nationalsozialismus herangeführt worden. Und da ist natürlich Angst, dass der grüne Hügel als brauner Hügel dann erscheinen wird. Die Angst, die sitzt unglaublich tief. Und ich habe mit Katharina Wagner, ich habe festgestellt, eine Vorstellung von Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit hat sie nicht. Sie hat auch keine Vorstellung, wie man mit Vergangenheit umgeht.

Ich hab ihr gesagt, alle anderen großen Institutionen, alle Disziplinen der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik haben sozusagen angefangen, ihre Vergangenheit im Dritten Reich aufzublättern und zu öffnen auch für einen Blick von außen, da sind Sie doch wirklich, da sind Sie doch in einer guten Nachbarschaft. Das müssen Sie doch einfach, müssen Sie einfach doch wagen können, weil Sie sehen, es ist keiner gerichtlich dann belangt worden, sondern es ist eine Debatte gewesen, eine ganz normale Debatte. Das hat offensichtlich – das verfängt nicht. Es ist eine große Ignoranz bei dem Teil der Wagner-Familie festzustellen. Das ist bei Nike völlig anders.

Das ist eine reflektierte Intellektuelle, die auch sehr stark sich jetzt in die Debatte einmischt und sagt: öffnen, öffnen, öffnen. Aber da sind, wie gesagt, da sind – und die Frau Laverenz steckt offensichtlich noch ganz in der Nazizeit drin, ja, also, das ist diejenige ja, die Amelie und den weißen Schrein deckt. Wir haben ja einen Appell gerichtet im Verlauf der Ausstellung, die Richard-Wagner-Stiftung zu öffnen, alle Familienstämme haben unterschrieben, es hat sich nichts bewegt. Also da sieht man, die Frau Laverenz, die steckt direkt noch in dieser Zeit drin. Und verteidigt sozusagen ihr eigenes Leben und ihren eigenen Lebenssinn.

Scholl: Die NS-Vergangenheit der Familie Wagner und die Aufklärung. Die Fragen bleiben und werden lauter. Wir haben den Historiker Hannes Heer gehört. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, Herr Heer, und das Gespräch!

Heer: Tschüss!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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