DVD-Tipp: "Deutschland 1966"

Ein Hauch von Nouvelle Vague bei der Berlinale

Von Laf Überland · 06.02.2016
Die Retrospektive der bevorstehenden 66. Berlinale widmet sich dem Jahr 1966. Die Aufbruchstimmung von damals war auch im Kino zu spüren. Laf Überland hat drei Empfehlungen des Programms "Deutschland 1966", das auch auf DVD erscheint.
(Al spielt Trompete)
Nachbar: "Der Halbstarke von oben! Hat wohl wieder Urlaub!"
"Jahrgang 45" im Programm der Retrospektive der Berlinale 2016 erzählt eine kurze Geschichte von der Säuglingsschwester und dem Automechaniker, von Alfred und Lisa - Al und Li.
Die beiden haben zu früh geheiratet, jetzt ist Al unzufrieden und Li irgendwie auch. Sie wollen sich scheiden lassen, aber das ist irgendwie auch zu früh. Und dieses "irgendwie", das ist der Kern in diesem luftig-weiten, schönen Film: Eng ist es nur auf Lis Säuglingsstation, aber Jürgen Böttcher und sein Kameramann Roland Gräf filmen lieber die lässige Unentschlossenheit: Fangen die Zeit ein, wie sie verrinnt, poetisch, die jungen Leute schlendern durch den Tag, Al mit offenem Hemd.
Überzeugende Laien unterstützen die Hauptdarsteller
Es gibt Aufnahmen von jungen Leuten beim Tanzen, beim Knutschen, und um die Hauptdarsteller herum spielen sehr überzeugende Laien.
Al: "So was hat Li nie gemacht."
Mutter: "Was?"
Al: "Na, Pudding!"
Mutter: "Haste ihr gesagt, dass du Pudding so gerne isst?"
Al: "Nee. Ich finde, darauf muss ne Frau von selber kommen."
Mutter: "Dein Vater hat's mir gesagt."
Al ist übrigens nicht annähernd so nihilistisch wie der seelenverwandte Werner Enke zwei Jahre später im Schwabinger "Zur Sache Schätzchen": Aber die jungen Männer und Frauen vom "Jahrgang 45"sind genau so unbedingt frei in ihren Gefühlen. Und das war es wohl, was die Kulturoberen in Ostberlin schockierte: Diese "Heroisierung des Abseitigen", wie es genannt wurde, durfte nicht sein!
Kaffeekränzchenrunde: "Was wollen Sie denn mit ihrer sogenannten Freiheit anfangen? - Friede und Ruhe! - Damit kann man doch gar nichts anfangen."

Jahrgang 45
Deutsche Demokratische Republik 1966/1990
Regie: Jürgen Böttcher
Mit: Monika Hildebrand, Rolf Römer, Paul Eichbaum
Am Sonntag, den 14.2.2016 läuft "Jahrgang 45" um 11:25 Uhr auf 3sat – im Rahmen einer Reihe zu 70 Jahren DEFA.

In "Abschied von gestern", dem ersten Langfilm des Oberhausen-Mannes Alexander Kluge, ist die 22-jährige Anita G. (gespielt von Kluges Schwester Alexandra) aus der DDR in den Westen geflohen. Aber sie kommt in der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft nicht an: Wird wegen Diebstahls einer Strickjacke zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, sie arbeitet als Bürokraft und als Vertreterin für Sprach-Lern-Schallplatten, hat ein Verhältnis mit ihrem Chef, dann mit einem Ministerialrat, unterschlägt Geld, versucht vergeblich zu studieren, wird schwanger und schließlich von der Polizei gesucht.
Richter: "Haben Sie denn gefroren?"
Anita G.: "Ja."
Richter: "Aber es war doch Sommer …"
Anita: "Ich friere auch im Sommer."
Richter: "Das ist aber nach der Lebenserfahrung ungewöhnlich!"
Odyssee einer Streunerin
Diese Odyssee einer Streunerin montiert der junge Kluge zu einer kunterbunten Mischung aus Groteske und Experimentalfilm. Die Satire funkelt aus den übermütig angeklebten, surrealen Geistesblitzen - zwischen Baustellen und gemütlichem Biedermeierzimmer, Knastkoje und Vorlesungssaal, Wirtschaftswunder und verleugnetem Nazierbe.
Alexander Kluge: "Ein Mammut, das im Eise steckt, hat unser Walter hier entdeckt. Jetzt aber, plötzlich aufgewacht, hat es die Augen aufgemacht und rief, vergnügt trotz hohem Alter: Ei, guten Morgen, lieber Walter!"

Abschied von gestern
Bundesrepublik Deutschland 1965/66
Regie: Alexander Kluge
Mit: Alexandra Kluge, Günter Mack, Eva Maria Meineke

In die Riege dieser Jungfilmer wollte Will Tremper gar nicht gehören: Er war ein egomanischer Sensationsreporter mit dem uralten Gespür für Brisanz, mit präzisem Blick und dickem Sturkopf. Und als er seinen vierten Spielfilm "Playgirl" einfach mal, ganz billig, unabhängig gedreht hatte und dann kein Verleih den Film haben wollte, verkaufte Tremper ihn direkt an die Kinos.
Das Playgirl ist Eva Renzi: Alexandra, die nach Berlin kommt und mit wehenden Haaren selbstbewusst durch diverse Appartements und Betten hüpft - auch das des Erfolgsarchitekten und Frauenvernaschers Paul Hubschmid (den sie sich eigentlich angeln will) und das des maßlos verliebten und düpierten Sekretärs Harald Leipnitz.
Alexandra: "Mensch! Die Gedächtsniskirche, der Kudamm!"
Fahrer: "Sogar einen Parkplatz haben wir gefunden, Frollein, wenn das kein gutes Omen ist ..."
Architektur und freie Liebe
Und der zynische Tremper weiß, was das coole Publikum sehen will: Architektur und freie Liebe, Wirtschaftswunderkino-Avantgarde: Der Modemacher Heinz Oestergaard tritt auf, aber auch das experimentelle Living Theatre, im legendären Schicki-Restaurant Kopenhagen wird dessen legendärer Hering gegessen, das Kempinksi taucht auch und in der nagelneue Philharmonie wird auch gedreht – völlig sinnfrei eigentlich, einfach nur um sie zu zeigen in Trempers Film gewordenen Schaufenster des Westens.
Und trotzdem atmet dieser Kolportage-Schund-Film die Losgelöstheit der Nouvelle Vague: So schlecht die Dialoge teilweise sind - es gab kein festes Drehbuch, so überzeugend sind die Stars mit ihrer spürbaren Freude am Experiment.
Alexandra: "Sie mögen keine Neger?"
Siegbert Lahner: "Ehrlich gesagt, nein. Ich mag keine Neger, die hier herum wohnen und sich an unsere Mädchen ranmachen."
Alexandra: "Sind Sie wirklich so engstirnig? So zurückgeblieben? Pfui Teufel, Sie sollte sich was schämen!"
Lahner: "Sie sind, wenn ich das mal so sagen darf, eine von diesen hysterischen Damen, die ich aus Amerika kenne."
Alexandra: "Hysterisch? Sagten Sie eben hysterisch?"
Lahner: "Still!"

Playgirl
Bundesrepublik Deutschland 1965/66
Regie: Will Tremper
Mit: Eva Renzi, Harald Leipnitz, Paul Hubschmid

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