Novelle

Verloren im Traumreich

Von Vladimir Balzer · 20.11.2013
In seinem neuen Buch führt Ulrich Tukur den Leser in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg - es ist ein raffiniertes Spiel mit den Epochen.
Ulrich Tukur meldet sich als Schriftsteller zurück. Es ist die zweite Veröffentlichung nach seinen vor sechs Jahren erschienenen Venedig-Erzählungen. Nun also: Frankreich, die ländliche Picardie, im Norden der Republik. Aber schon mit der Erwähnung des Ortes bringt man fast zu viel Realität ins Spiel, denn Tukurs neuestes Werk wandelt zwischen Traum und Wirklichkeit. Und das auf fast jeder Seite, so dass man als Leser oft nicht weiß, in welcher der Welten man sich befindet.
Den Rahmen bildet die wahre Geschichte des deutschen Kunstsammlers Wilhelm Uhde und der naiven Malerin Séraphine Louis. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts entdeckt er sie und ihre Kunst eher zufällig, beginnt sie zu fördern, auch als niemand sonst an sie glaubt und die Dorfbewohner sie verspotten. Sie, die Mittellose, lebt ganz in ihrer Welt der selbst gemischten Farben und des traditionslosen, fast kindlichen Malens. Uhde ist fasziniert von ihrem Wesen, versucht sie in Paris durchzusetzen, erlebt aber zu Beginn des Ersten Weltkriegs ein jähes Erwachen aus seinem Kunstsammlertraum, er verlässt fluchtartig das Land und kehrt erst Jahre später zurück. Séraphine malt inzwischen weiter, vermisst ihn, glaubt an eine Liebesbeziehung und versteht seine Homosexualität nicht.
Sie lebt ganz für ihre Kunst, sie allein ist ihre Wirklichkeit, das "wahre Leben" ist für sie irreal. Irgendwann geht sie den Weg vieler isolierter Künstler jener Zeit - sie wird eingeliefert.
Realität und Traumwelt
Uhde, Séraphine, die Kunst, der Krieg, die Suche nach dem "ursprünglich Reinen" und "nach einer schöneren Welt" - das war auch Gegenstand eines Filmes aus dem Jahr 2009 mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle. Er hat Wilhelm Uhde im Film von Martin Provost gespielt und damit in Frankreich große Erfolge gefeiert. Die Dreharbeiten sind zur Quelle für Tukurs Novelle geworden. Aus der Sicht eines namenlosen Schauspielers erzählt er, wie sich Mitglieder des Filmteams und letztlich auch er selbst in der fantastischen Welt der Séraphine verstricken, wie Realität und Traumwelt ineinander fließen, wie Gemälde zum Leben erwachen, wie Spieluhren mit lebendigen Tänzerinnen bestückt sind, wie ein Schloss zum Ort unerklärbarer und beängstigender Geschichten wird, wie später nach dem Ersten auch noch der Zweite Weltkrieg einbricht.
Man folgt Tukur in dieser Mischung aus romantischem Kunstmärchen und Gothic Novel nicht ungern, ist aber irritiert von seiner biedermeierlichen Sprache. Sie wirkt hier nur wie eine ästhetische Anbiederung an eine vergangene Zeit, und nicht etwa als raffiniertes literarisches Spiel mit den Epochen. Zuweilen rutscht Tukur dabei auch in die Kolportage und in den peinlichen Pathos. Darüber hinaus wirkt diese Novelle wie aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengebaut, ohne ein Ganzes zu ergeben. Tukur hat sich offenbar in seine literarische Idee verliebt - wie viele Streichungen hätte dieses Buch jedoch vertragen. So bleibt am Ende ein widersprüchliches Gefühl - ein guter erzählerischer Ansatz erfährt zu wenig sprachliche Gestaltung.
Ulrich Tukur: Die Spieluhr
Ullstein Verlag, Berlin 2013
160 Seiten, 18 Euro