Norwegen

Eiskaltes Idyll

Die norwegische Siedlung Longyearbyen auf Spitzbergen
Die norwegische Siedlung Longyearbyen auf Spitzbergen © Deutschlandradio / Kerstin Hildebrandt
Von Kerstin Hildebrandt  · 17.11.2014
Walfänger, Jäger, Forscher und Abenteurer - sie alle hat es nach Spitzbergen gezogen. Doch die wenigsten hielten es in der Kälte und Unwirtlichkeit des Nordpolarmeers länger aus. Inzwischen aber ist der Minenarbeiterort Longyearbyen ein fast normales norwegisches Dorf. Aber eben nur fast.
Seit Ende Oktober ist die Sonne in der kleinen norwegischen Siedlung Longyearbyen auf Spitzbergen verschwunden. Bis sich der erste kurze Lichtschein wieder am Horizont zeigt, wird es jetzt drei Monate dauern. Für Menschen anderer Breitengrade mag das ein Grund zum Fürchten sein. Doch wer hier lebt - 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt -, der kann auch dieser langen, dunklen Zeit einiges abgewinnen:
"Es ist ruhiger, weniger Touristen kommen, das Tempo ist langsamer. Wenn das Licht zurückkommt, dann gibt es so viel zu tun, dann sind die Leute in Eile. Dann machen alle Ausflüge auf dem Schneescooter, gehen raus in die Natur. Aber in der dunklen Periode, machen sie mehr die sozialen Sachen, hängen zusammen im Ort rum."
Stein Henningsen ist Performancekünstler. Davon allein kann er aber nicht leben. Leben kann er von den Touristen, die wie die Zugvögel im kurzen arktischen Sommer kommen.
Dann steht er an Deck eines Schiffes, zeigt ihnen die Fjorde und Gletscher und erzählt vom Leben auf Spitzbergen. Der 52-Jährige ist in Longyearbyen aufgewachsen. Er erinnert sich noch an die Zeiten, als der Ort im Winter monatelang von der Außenwelt abgeschnitten war, denn damals gab es den Flughafen noch nicht, der wurde erst 1975 gebaut.
"Im Oktober oder November legte das letzte Schiff ab und dann waren wir eingeschlossen vom Eis. Wir waren isoliert. Ich kann nicht sagen, dass es eine schwere Zeit war, denn ich war ein Kind und wuchs mit dieser Isolation und Dunkelheit auf."
In Stein Hennings Kindheit, in den 60er-, 70er-Jahren, war Longyearbyen noch eine reine "Company Town" – eine Arbeitersiedlung. Sie gehörte der "Store Norske Kulkompani". Das norwegische Staatsunternehmen kümmerte sich um Unterkunft, Verpflegung und Wohlergehen ihrer Angestellten.
Die Relikte des Bergbaus vergangener Tage prägen bis heute das Stadtbild: Wie die alte Grubenseilbahn, die mitten durch Longyearbyen führt und deren meterhohe Holzmasten ein wenig an riesige Galgen erinnern. Zum Teil hängen noch rostige Loren an den gespannten Drahtseilen. An den Berghängen sind die halbverfallenen Eingangsbauten zu den alten Minen zu sehen. Auch heute wird weiterhin Kohle abgebaut, allerdings liegen die Minen jetzt viel weiter entfernt.
"Die große Mine ist in Sveagruva. Man fliegt mit einem Flugzeug von hier aus hin, bleibt zwei Wochen zum Arbeiten, kommt zurück und geht dann wieder für zwei Wochen hin. So ist der Rhythmus. Die Minenarbeiter leben aber immer noch in der Siedlung."
Nach wie vor ist die "Store Norske Kulkompani" der größte Arbeitgeber des Ortes, doch die Tage des Bergbaus sind gezählt. Die jetzigen Vorkommen werden in einigen Jahren erschöpft sein und ob die Erschließung neuer Fördergebiete genehmigt wird, ist aus ökologischen Gründen fraglich.
Richtig rentabel war der Abbau der Kohle hier in der Arktis ohnehin selten. Die norwegische Politik begann deshalb schon vor mehr als zwanzig Jahren damit, auf Tourismus und Forschung zu setzen. Heute steht der größte Teil des 62.000 Quadratkilometer großen Archipels unter Naturschutz. Sorgen um die Zukunft des Ortes macht sich Stein Henningsen deshalb nicht.
"Es kommen jedes Jahr mehr und mehr Touristen. Vor allem im Sommer, landen viele Flugzeuge. Das Gute ist, es kommen auch viele Leute, die hier bleiben und dadurch den Charakter der Stadt prägen. Man kann in die Bars und Restaurants gehen und jeden Tag neue Leute treffen. "
Schön ist der Ort nicht zu nennen
Touristen, Forscher, Abenteurer - sie alle zieht es nach Spitzbergen. Und Longyearbyen ist das Tor zu dieser arktischen Inselwelt, dem letzten Vorposten der Zivilisation.
An den beiden langen schnurgeraden Hauptstraßen des Ortes liegen Souvenirshops und Geschäfte für Outdoorkleidung. Hier gibt es Hotels, Restaurants, eine Bank und einen Supermarkt. Kleine Firmen haben sich angesiedelt, die ihr Know how für Expeditionen zur Verfügung stellen. Vor allem in den hellen Monaten drängeln sich in der kleinen Fußgängerzone Menschen aus aller Welt.
Für zusätzliches internationales Flair sorgt eine kleine Universität mit 500 Studierenden.
Das Gebäude sieht von außen ein bisschen aus wie ein Raumschiff. Drinnen zieht jeder - wie in allen Gebäuden auf Spitzbergen - erstmal seine Schuhe aus. Gleich am Eingang stehen Regale mit Wechselschuhen. An der Pinnwand werden Schneescooter zum Kauf angeboten - und Kurse im Kajakfahren oder Schießen.
Fächer wie Philosophie oder Literaturwissenschaften können an dieser Uni allerdings nicht belegt werden. Hierher kommen Studenten der Geologie oder Geophysik, um für ein paar Semester Feldstudien in der Arktis zu betreiben. Das Forschungslabor liegt sozusagen vor der Haustür.
Nach wie vor sind die meisten Einwohner von Longyearbyen Norweger, aber die Zahl der Ausländer steigt. Ein Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis braucht niemand, um sich hier niederzulassen. Der Grund: 1920 erhielt Norwegen durch ein internationales Abkommen die Souveränität über die bis dahin staatenlose Inselgruppe. Allerdings musste das Land Bürgern anderer Staaten zusichern, dass auch sie an der friedlichen Nutzung und Entwicklung von Spitzbergen teilhaben können.
"Es wirkt so, als sei es leicht, nach Longyearbyen zu kommen und hier zu wohnen. Aber jeder, der hier wohnt, muss in der Lage sein, sich durch Arbeit oder durch eigenes Geld am Leben zu erhalten. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann vom Gouverneur ausgewiesen werden."
Odd Olsen Ingerö ist der Sysselmann, so heißt der von Norwegen eingesetzte Polizei- und Verwaltungschef von Spitzbergen. Mit seinen Beamten residiert er in einem modernen Gebäude etwas oberhalb des Ortes. Von hier hat er einen guten Blick auf den Fjord, auf die gewaltigen, kargen Berge und die Siedlung.
In den letzten Jahren wurde viel gebaut in Longyearbyen. Häuser in bunten Herbstfarben ziehen sich längs des Tals auf der anderen Seite. Die Stadt hat sich in den letzten Jahren herausgeputzt. Schön kann man den Ort trotzdem nicht nennen. Rohre und Leitungen verlaufen oberirdisch, wegen des Permafrostbodens. Die meisten Häuser sind aus Holz, meist schmucklose Mehrfamilienhäuser. Historische Gebäude gibt es so gut wie nicht. Denn die Siedlung wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen niedergebrannt. Überall, zwischen den Häusern und am Straßenrand, sind Schneescooter abgestellt. Autos fahren hier nur wenige. Das Straßennetz ist gerade mal 40 Kilometer lang.
Trotzdem hat Longyearbyen als Siedlung einiges zu bieten. Es gibt zwei Museen, eine Galerie und eine kleine Bibliothek, eine Schule und drei Kindergärten. Im Kulturhaus finden Kinoabende und Konzerte statt, im Schwimmbad werden Kurse für Babyschwimmen angeboten.
"Longyearbyen entwickelt sich mehr und mehr von einer Company-Town, einer firmeneigenen Arbeiter-Stadt, hin zu einer normalen Siedlung. Und das ist auch politisch so gewollt. Es ist tatsächlich so, dass Longyearbyen heute fast zur Familiensiedlung wird."
Ob in der kleinen Fußgängerzone, im Supermarkt oder im Cafe - überall sind auffallend viele junge Eltern mit ihren Kindern zu sehen. Ein Eindruck, den die aktuelle Statistik von diesem Jahr bestätigt: 409 Kinder unter 15 Jahren leben in Longyearbyen - und das bei nur 2000 Einwohnern. Das Dorf sei für Familien ideal, meint der Lehrer und dreifache Vater Hans-Gunnar Skreslett.
"Alles ist hier nah, man braucht keine Stunde, um zur Arbeit zu kommen oder um die Kinder abzuholen. Fünf Minuten - und man ist zuhause. Es ist ein ziemlich gutes Umfeld für die Jüngeren."
Beschaulich wirkt das Leben im kleinen Longyearbyen und lässt dabei fast vergessen, dass diese Siedlung auf einer Insel mitten im Nordpolarmeer liegt, 1000 Kilometer vom norwegischen Festland entfernt, mitten in einer grandiosen, aber menschfeindlichen Landschaft aus Eis, Schnee und Stein.
Doch keine ganz normale Familiensiedlung
Svalbard nennen die Norweger Spitzbergen, übersetzt heißt das: der kalte Rand. Vom Rand der Welt zu sprechen, ist hier nicht übertrieben. Da, wo die Straßen von Longyearbyen enden, beginnt die arktische Wildnis - keine Gegend für einen Sonntagsspaziergang mit der Familie, zumindest nicht unvorbereitet:
"If you go for hikes, if you want to go walking in the mountains, you should know, how to handle a weapon."
Wer zum Wandern in die Berg gehen will, sollte wissen, wie er mit einer Waffe umgehen muss, warnt eine Bewohnerin.
Denn es sind Eisbären unterwegs. 2011 verlor ein 17-jähriger Brite durch einen Eisbärenangriff sein Leben – nur 40 Kilometer von Longyearbyen entfernt. Selbst im Siedlungsgebiet sei man nicht hundertprozentig sicher, sagt Arktisforscher Rolf Stange.
"Man kann durchaus bei Longyearbyen und im Extremfall in Longyearbyen einem Eisbären begegnen. Im Sommer auf den Straßen im belebten Bereich, ist die Wahrscheinlichkeit extrem gering, aber trotzdem, wenn man sich auf den Straßen im Umfeld bewegt, da ist damit zu rechnen, dass man einem Eisbären auch mal begegnen könnte."
Die Kinder des Ortes scheinen von dieser Gefahr nicht viel zu wissen. Im Kindergarten "Polarflokken" schaukeln drei Knirpse in Schneeanzügen fröhlich um die Wette - geschützt durch einen hohen Zaun.
Für den Fall, dass sich doch mal ein Eisbär hierher verirrt. Eine ganz normale Familiensiedlung ist Longyearbyen also nicht. Warum leistet sich Norwegen überhaupt den Luxus und hält mit Subventionen eine Siedlung mitten in der Arktis am Leben? Finanzielle Gründe sind es nicht, denn Oslo darf keine Einnahmen aus Spitzbergen ziehen, das verbietet der internationale Vertrag von 1920.
"Norwegen hat die Hoheit über diese Inseln und will sie behalten, dadurch dass der Tourismus, die Kohleindustrie und die Bildung und Forschung stabil bleibt",
bringt es der Norweger Oivind Lund auf den Punkt. Der 67-Jährige ist vor drei Jahren nach Longyearbyen gezogen. Er hat bereits ein erfolgreiches Berufsleben auf dem Festland hinter sich. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich von den meisten hier. Doch das, was er sucht, das suchen hier auch viele Jüngere: Grenzerfahrungen in der Natur und dabei zu sich selbst zu finden.
Lehrer Hanns Gunnar Skreslett glaubt, dass nicht etwa Kälte oder monatelange Dunkelheit dafür verantwortlich sind, warum viele Familien schon nach wenigen Jahren Spitzbergen wieder verlassen.
"Ich denke, der Hauptgrund ist, dass es zu teuer ist, hier zu leben – es sei denn, man verdient hier mehr als auf dem Festland. Allein ein Flug mit der Familie zu Weihnachten aufs Festland ist ziemlich teuer – ebenfalls die Lebensmittel. Wenigstens sind die Steuern niedriger."
Den endgültigen Abschied hinauszögern
Und doch zieht es ganze Familien in die Arktis. Die Menschen dort haben dafür eine einfache Erklärung: Sie nennen es den "arktischen Bazillus". Wer sich den einfängt, der kommt nicht mehr los von dieser Gegend.
"Ich schätze, wir haben einfach eine Leidenschaft für diesen Ort entwickelt und wir mögen es hier. Aber wir wissen auch, wenn unsere Kinder größer sind, dann müssen wir auch auf ihre Meinung hören."
Um den Arbeitsplatz von Hans-Gunnar Shresett könnten ihn viele deutsche Lehrer beneiden: Die Schule ist bestens ausgestattet - ein Ort zum Wohlfühlen:Eine offene Bibliothek bildet das Zentrum des Gebäudes, es gibt gemütliche Sitzecken, Smartboards und Computer in allen Klassenzimmern - und vor allem ausreichend Platz zum Spielen.
"Ich denke, dass ist auch notwendig, denn in der Winterzeit können die Kinder nicht draußenbleiben, wenn es stürmt und minus 25 Grad herrschen."
Eines haben alle Kinder dieser Schule gemeinsam, egal wie lange sie und ihre Familien schon hier leben: Geboren wurde keines von ihnen in Longyearbyen. Eine Geburtsstation gibt es nicht.
"Bis heute hat das gut funktioniert. Denn es gibt auf Spitzbergen keine Urbevölkerung. Das heißt, jeder ist hier einmal von außerhalb hergezogen und jedem waren diese Bedingungen bekannt. Aber jetzt gibt es Menschen, die 40 Jahre lang hier gewohnt haben und wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, kann es doch einmal zu einem Problem werden."
Freya Hutzschenreuther ist so ein Fall, der eigentlich nicht vorgesehen ist. Sie ist längst auf Rente und immer noch da. Mit ihren 76 Jahren liegt sie weit über dem Altersdurchschnitt in Longyearbyen. 1968, nach abenteuerlichen Jahren auf See, blieb die gebürtige Sächsin auf Spitzbergen hängen.
Jeden Tag um fünf verlässt die alte Frau ihre Wohnung und macht sich auf den Weg zu einem Café ganz in der Nähe, um dort zu Abend zu essen. Sie hat nie selbst gekocht, gegessen wurde früher in den Kantinen der Kohlegesellschaft. Für die hat Freya Hutzschenreuther viele Jahre gearbeitet - geputzt, Essen ausgeteilt, Laborproben ausgewertet.
Ihre kleine Wohnung bekam sie vom Unternehmen gestellt. Seit sie auf Rente ist, muss sie Miete zahlen. Noch kann sie sich selbst versorgen, noch schafft sie den drei Kilometer langen Weg von ihrer Wohnung zum einzigen Supermarkt am anderen Ende des Ortes. Aber wenn das einmal nicht mehr gehen sollte, dann will sie nicht mehr hier sein.
"Nein! Stellen sich mal vor, meine Mutter war einige Jahre im Rollstuhl. Stellen Sie sich das mal vor, mit 'nem Rollstuhl auf matschigen Straßen, auf vereisten Straßen, auf verschneiten Straßen, bei Wind irgendwo hinzugehen. Da kann ich genauso gut ins Gefängnis gehen, denn ob ich in 'ner Wohnung nicht raus komme oder in einer Gefängniszelle, das ist ungefähr dasselbe."
Ihre letzte Ruhe könnte sie auf Spitzbergen ohnehin nicht finden. Bestattungen werden nur in ganz seltenen Fällen genehmigt. Auch damit soll verhindert werden, dass Menschen sich hier zu sehr verwurzeln. Spitzbergen soll eben nur eine Heimat auf Zeit sein.
"Man kann hier nur begraben werden, wenn man an das Land hier gebunden ist."
Freya Hutzschenreuther will also zurück nach Deutschland. In Berchtesgaden hat sie noch eine kleine Wohnung. Die hat sie nie aufgeben, denn wie alle, die auf Spitzbergen leben, muss sie in ihrer alten Heimat gemeldet bleiben. Noch aber zögert die alte Frau den endgültigen Abschied von Spitzbergen hinaus. Sie sei bisher noch nicht an den Punkt gekommen, wo sie sagen könne:
"Bis jetzt war es schön und jetzt ist es genug."
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