Norwegen

Burnout-Kandidat Stoltenberg

Von Carola Wiemers · 09.01.2014
Wie steigt man aus der Politik aus? Im Mittelpunkt dieses Romans steht Norwegens Ex-Premier Jens Stoltenberg, der die Regierungsgeschäfte nicht mehr verkraftet - und Ruhe an einem Fjord sucht. Zugleich ist das Buch ein eindringliches Psychogramm der norwegischen Gesellschaft.
2011 gab es in Norwegen zwei Ereignisse, die das Land nachhaltig veränderten. Am 22. Juli 2011 um 15:25 Uhr explodierte vor dem Bürogebäude des Premierministers in Oslo eine Autobombe. Acht Menschen wurden getötet. Der 32-jährige Täter, Anders Behring Breivik, richtete wenig später auf der nordwestlich von Oslo gelegenen Insel Utøya im Sommercamp der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei ein zweites Blutbad an. Er tötete dabei 69 Menschen im Alter zwischen 14 und 51 Jahren.
Zeitgleich entdeckte Statoil vor der norwegischen Küste eines der größten Ölfelder, dessen Vorkommen auf ca. 200 Milliarden Liter geschätzt wird. Während das Ölvorkommen dem Land Reichtum bescherte, war es Aufgabe der Politiker zu untersuchen, wie es zu den brutalen Anschlägen kommen konnte. Der sozialdemokratische Premierminister Jens Stoltenberg sprach von Norwegens schlimmster Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Er betonte in seiner Trauerrede aber auch, das Land werde seine demokratischen Werte nicht aufgeben und rief zu noch mehr Offenheit und Menschlichkeit auf.
Umkehrung an Hans Falladas "Ein Mann will nach oben"
Der 1969 in Trondheim geborene Schriftsteller Erlend Loe - ein Spezialist für die Schattenseiten der menschlichen Existenz - reagierte mit literarischen Mitteln auf diese Ereignisse. Sie grundieren seinen Roman, dessen tragisch-komischer Titel in der Umkehrung an Hans Falladas "Ein Mann will nach oben" erinnert. Denn kein Geringerer als Jens Stoltenberg ist jener Mann, der "nach unten will". Da er die Last der Regierungsgeschäfte nicht mehr verkraftet, versucht er aus der Politik auszusteigen.
Da die Sozialdemokraten das "direkte Ziel der Attentate" waren, muss er sich eine gewisse Handlungsunfähigkeit eingestehen. Seine Fantasie reicht nicht mehr aus, sich vorzustellen, wozu Menschen noch fähig sind. Dem Politiker mangelt es außerdem an Argumenten, um hoffnungsvolle, zukunftsorientierte Reden - wie etwa die Neujahrsansprache - zu halten.
Ein eindringliches Psychogramm der norwegischen Gesellschaft
Aber wie steigt man aus der Politik aus? In der Hoffnung, es handele sich um eine temporäre Ermüdung, wird eine Einliegerwohnung am Fjord angemietet, damit der Burnout-Kandidat Ruhe finden kann. Der Vermieter Fvonk wird bald zum engsten Vertrauten, dem Stoltenberg von seinen Ängsten erzählt. Anhand dieser Gespräche entwickelt Loe ein eindringliches Psychogramm und diagnostiziert dabei die Veränderungen in der norwegischen Gesellschaft als Verstörungssymptome.
Da mit Fvonk alles möglich ist, was dem Politiker bislang verwehrt war: Alkohol trinken, Shoppingtouren in Schweden, die Emanzipation anzweifeln, wird Stoltenbergs Denken allmählich wieder angstfrei. Loe stellt Fvonk als Realitätsprinzip dar, das von Stoltenberg Besitz ergreift. Erst als dieser Motor aufhört, in ihm zu arbeiten, vermag der Premierminister seine Sehnsucht in eigene Worte zu fassen.

Erlend Loe: Jens. Ein Mann will nach unten
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
189 Seiten, 8,99 Euro