Nordkaukasus

Leben mit dem Terror

Polizisten einer Spezialeinheit vor einem vergitterten Fenster in der nordkaukasischen Stadt Naltschik, aus dem Rauchschwaden austreten.
Polizisten einer russischen Spezialeinheit im Einsatz in Naltschik (Archivbild vom 20.12.2005). © picture-alliance/ dpa/ dpaweb
Von Gesine Dornblüth · 09.01.2014
Zurzeit geht im Nordkaukasus ein Mammut-Prozess gegen 58 Terrorverdächtige zu Ende. Ihnen wird vorgeworfen, 2005 eine ganze Stadt überfallen zu haben: Naltschik, Hauptstadt der russischen Teilrepublik Kabardino-Balkarien. Damals wurden dort Dutzende Polizisten, Zivilisten und Terroristen getötet.
"Dokumenty mozhno Vashi?"
Brüchige Holzhäuser, marode Zäune, vereiste Schlaglöcher. Die Straße ist gesperrt. Polizisten in Splitterschutzwesten kontrollieren die Papiere der Passanten. Sie tragen Maschinenpistolen. Viele Uniformierte in Kabardino-Balkarien sind derart ausgerüstet, selbst Posten der Verkehrspolizei mit Sandsäcken und Betonblöcken gesichert.
Die Männer kontrollieren den Weg zum Untersuchungsgefängnis von Naltschik. Dort stehen gleichzeitig 58 Männer vor Gericht.
Im Oktober 2005 sollen sie die Stadt überfallen haben. Rund 200 islamistische Terroristen stürmten damals die Polizeistationen der Stadt, die Kaserne, die Geheimdienstzentrale, beschossen den Flughafen. Einen Tag dauerten die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Terroristen. 140 Menschen kamen offiziellen Angaben zufolge ums Leben, die meisten von ihnen Angreifer, aber auch 35 Angehörige der Sicherheitskräfte und zwölf unbeteiligte Anwohner.
Prozess zieht sich seit Jahren
Mehr als acht Jahre ist das her. Der Prozess zieht sich seit 2008. Es dürfte der größte Antiterrorprozess in der Geschichte Russlands sein. Das Gerichtsgebäude wurde extra für ihn gebaut.
Am Eingang eine weitere Kontrolle. Auf dem Flur warten bereits zwei Dutzend Frauen. Alle tragen Kopftücher. Eine von ihnen ist Jevgenija Kukutowa, Mitte 30, Schneiderin. Ihr Mann gehört zu den Terrorverdächtigen, die hier seit sechs Jahren ohne Urteil vor Gericht stehen. Sie blickt auf die Sicherheitsbeamten, die Taschen und Telefone der Besucher einsammeln:
"Für die sind wir alle Wahabiten, Terroristen. Wir und unsere Männer sind für sie eine Bedrohung. Sagen sie. Dass sie selbst auch foltern, töten, Menschen entführen, das ist für sie in Ordnung."
"Sie" - das sind für Evgenija Kukutowa die Sicherheitskräfte, Polizisten, Staatsvertreter. Einheimische sprechen von einem Krieg zwischen ihnen und den Untergrundkämpfern.
Wenig später beginnt die Verhandlung. Die Angeklagten sitzen jeweils zu zehnt in Gitterkäfigen: die meisten bärtig, mit der runden Kopfbedeckung der Gläubigen. Der Saal ist so groß, dass Angeklagte, Richterin, Verteidiger und Staatsanwältin über eine Lautsprecheranlage und Videobildschirme kommunizieren. Die Frauen verfolgen den Prozess von der Besuchertribüne aus. Aufzunehmen ist verboten.
Die Staatsanwältin beantragt eine weitere Verlängerung der Untersuchungshaft. Dem Antrag wird stattgegeben.
Gewalt gegen Staatsvertreter
Als die Frauen den vereisten Weg zurückgehen, steht ein Mann in schwarzer Lederjacke am Rand. Sein schlohweißes Haar fällt auf. Misstrauisch blickt er auf die Frauen. Er sei Polizeioberst und seit Jahren für die Sicherheit bei diesem Prozess zuständig, erzählt er, als das Mikrofon ausgeschaltet ist. Anfangs habe er noch Uniform getragen. Dann aber habe er bemerkt, dass die Frauen ständig ihre Mobiltelefone in der Hand hätten. Er befürchtet, sie könnten ihn in Uniform fotografieren, das Foto ins Internet stellen - und ihn damit zur Zielscheibe der Terroristen machen. Er wolle noch ein bisschen weiterleben, sagt er.
Die Angst ist begründet. Die Gewalt der Terroristen im Nordkaukasus richtet sich fast ausschließlich gegen Staatsvertreter. Erst wenige Tage zuvor haben Terroristen in Tschegem, einer Nachbarstadt von Naltschik, auf drei Strafvollzugsbeamte geschossen. Einer starb, die beiden anderen wurden schwer verletzt. Seriösen Quellen zufolge, kommen im Kaukasus jedes Jahr bis zu hundert Uniformierte gewaltsam ums Leben.
Walerij Khataschukow beobachtet diese Entwicklungen seit vielen Jahren. Khataschukow, ein kräftiger Mann mit einem dünnen Schnurrbart, sitzt hinter einem staubigen Schreibtisch. Er leitet ein Menschenrechtszentrum in Kabardino-Balkarien. Die kahlen Wände schmückt allein ein Gemälde eines Pferdes:
"Manchmal hat man den Eindruck, der bewaffnete Untergrund sei nicht mehr aktiv. Etwa alle zwei Jahre werden die Anführer des Untergrunds durch glückliche Umstände vernichtet. Aber nach kurzer Zeit organisieren sie sich wieder neu, und alles ist wie vorher und geht weiter wie immer."
Angst vor Folgen des Urteils
Khataschukow war in den letzten Jahren häufig im Gericht in Naltschik, hat den Mammutprozess gegen die 58 mutmaßlichen Attentäter von 2005 verfolgt:
"Ich möchte, dass Sie mich richtig verstehen: Ich will diese Gewalttäter nicht rechtfertigen. Für ihr Verbrechen gibt es keine Rechtfertigung. Und natürlich müssen die Schuldigen die Strafe bekommen, die sie verdienen. Das steht außer Frage.
Aber wie die Ermittlungen geführt wurden, schreit zum Himmel. Unter den Angeklagten sind etwa ein Dutzend Männer. Die wurden hineingezogen, aber haben nicht geschossen. Einem haben sie eine Pistole in die Hand gegeben, er hat sie weggeworfen und ist weggelaufen. Diese Leute sitzen jetzt seit 8 Jahren im Gefängnis. Vielleicht bekommen sie noch 20 Jahre. Das wird schlimme Folgen haben."
Das Urteil in dem Prozess wird im Frühjahr erwartet. Wenn es ungerecht ausfalle, fürchtet Khataschukow, werde dies die Spannungen in der Gesellschaft noch weiter verstärken.
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