Norbert Bolz: Sehnsucht nach Authentizität

Katrin Heise im Gespräch mit Norbert Bolz · 22.03.2010
Je stärker der Einfluss der Medien werde, desto größer werde die Sehnsucht der Fernsehzuschauer nach "der wirklichen Wirklichkeit hinter dem Bildschirm", sagt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Derzeit finden in Mainz die Tage der Fernsehkritik statt.
Katrin Heise: Am 22. März 1935 sendet der Reichsrundfunksender aus dem Berliner Funkhaus die erste reguläre Fernsehsendung der Welt: Eine Propagandasendung, die das Bild des Führers unverlöschlich in alle deutschen Herzen pflanzen soll – so beschrieb der damalige Reichssendeleiter den Auftrag des neuen Mediums. Seitdem sind 75 Jahre vergangen, das ehemalige Propagandainstrument hat sich zu einem Medium verwandelt oder gewandelt, das für sich in Anspruch nimmt, die Wirklichkeit abzubilden. Aber was bedeuten Wirklichkeit, Echtheit, Glaubwürdigkeit im heutigen Fernsehalltag überhaupt? Darüber wird auf den Mainzer Tagen der Fernsehkritik debattiert und hier im "Radiofeuilleton" hören Sie dazu den Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Er lehrt an der Technischen Universität Berlin. Schönen guten Tag, Herr Bolz!

Norbert Bolz: Guten Tag!

Heise: Welche Rolle spielten eigentlich vor 75 Jahren Fakten, Wirklichkeit, Echtheit beim Propagandaauftrag des Fernsehens?

Bolz: Propaganda klingt ja wie das Gegenteil von Wirklichkeit und Echtheit, aber das ist keineswegs der Fall. Gerade auch bei den Nazis nicht. Goebbels hatte nämlich auch von dem in Amerika arbeitenden PR-Mann Edward Bernays gelernt, dass moderne Propaganda nicht aus Lügen bestehen darf, sondern aus Fakten bestehen muss. Und es macht gerade die Bösartigkeit der Nazi-Propaganda aus, dass sie eben nicht einfach mit Lügen gelogen hat, sondern mit Fakten gelogen hat. Und da war das Fernsehen natürlich ein besonders verlockendes Medium, weil Bilder ja mit sich tragen so eine Vermutung von Authentizität, von Echtheit, von Unverfälschbarkeit, und das ist sicher der Zauber dieses Mediums bis zum heutigen Tag geblieben.

Heise: Das heißt, die Zuschauer damals glaubten, was ihnen gezeigt wurde?

Bolz: Unbedingt! Wir sind alle im Übrigen bereit als Zuschauer bis zum heutigen Tag, unsere Skepsis außer Kraft zu setzen, wenn wir Fernsehbilder – denken Sie an die "Tagesschau" abends etwa – sehen. Man hat das schon früher festgestellt, sogar gegenüber Romanen, suspension of disbelief hat man das genannt, die Außerkraftsetzung des Unglaubens. Das heißt, auch wenn wir heute mit allen Wassern der Medien gewaschen sind und jeder weiß, wie diese Bilder produziert werden: Wir sind innerlich immer auch bereit zu glauben, dass es wirklich so ist, wie es gezeigt wird, und das gilt zumindest für die Welt der Nachrichten. Aber man würde sich ja auch von einem Krimi nicht hinreißen lassen und faszinieren lassen, wenn man nicht irgendwie im Augenblick glauben würde, so ist es.

Heise: Gehen wir noch mal einen Schritt wieder zurück. Sie haben gesagt, mit Fakten wurde gelogen, das heißt, es wurde damit gelogen, dass man einfach immer ausschnittweise etwas gezeigt hat, das gefiltert wurde, dass die Wirklichkeit eben hin und her gedreht werden kann. Woher kommt eigentlich die Sehnsucht danach, sich die Wirklichkeit ausschnittweise zeigen zu lassen, jemanden die Wirklichkeit für sich filtern zu lassen?

Bolz: Nun, wir brauchen nicht nur konkrete Eindrücke von der Wirklichkeit wie im Alltag, sondern wir brauchen zur Orientierung des Lebens auch ein Bild von der Welt. Kein Mensch kann sich aber ein Bild von der Welt aus eigenen Stücken, aus eigenem Antrieb machen. Dazu muss man die Welt radikal vereinfachen, also so wie Sie das gerade gesagt haben: Man muss auslesen, man muss filtern, man muss selegieren, und das tun die Medien für uns. Im Grunde ist das ja die Leistung etwa der "Tagesschau" jeden Abend, uns zu suggerieren, man könnte in 15 Minuten sich ein Bild von der ganzen Welt und allem, was es an Wesentlichem gibt, machen, und das wird auch noch beglaubigt durch Bilder, die scheinbar untrüglich sind. Also, das ist eine Suggestion, von der wir alle leben: Es gibt ein Bild von der Welt, ich kann mich orientieren und das Ganze ist realistisch.

Heise: Das heißt, je komplexer die Welt wird, je komplexer das wird, was wir wahrnehmen könnten, desto mehr sind wir daran interessiert, dass es uns jemand aufbereitet?

Bolz: So ist es. Wir brauchen diese Dienstleistung, wenn man so will, diesen Service des Sinns, denn niemand kann mehr aus eigenen Stücken sich ein Bild von der Welt machen, die Welt selber erfahren in einem naiven, unmittelbaren Sinn. Wir brauchen eine präfabrizierte Welt, die einfach genug ist, um sie verstehen zu können. Und insofern schlagen die Massenmedien die Wirklichkeit auch immer erst platt, um sie darstellbar zu machen. Und das wird eigentlich durch den Bildschirm sehr schön symbolisiert.

Heise: Sie haben jetzt mehrfach die "Tagesschau" erwähnt. Wir leben aber natürlich auch in einem Fernsehalltag der Castingshows, der Lebenshilfe-Shows, von "Big Brother", vom "Dschungelcamp" und auch von den großen Enthüllungen hören wir immer wieder, über die Machart dieser Formate. Das heißt, die Zuschauer wissen, dass diese gezeigte Wirklichkeit inszeniert ist. Was löst das eigentlich in Ihnen aus?

Bolz: Das ist eine sehr, sehr wichtige Beobachtung, dass man nicht glaubt, die Menschen seien alle naiv und würden von den Medien gewissermaßen überrollt und überfahren. Heute sind fast alle Menschen in der westlichen Welt mit allen Wassern der neuen Medien gewaschen und sie wissen genau, wie Wirklichkeit in den Medien konstruiert wird. Aber gerade deshalb gibt es natürlich immer auch diese Sehnsucht nach dem Authentischen, nach dem unbezweifelbar Echten, nach gewissermaßen der wirklichen Wirklichkeit hinter dem Bildschirm. Und deshalb gewinnen immer mehr Formate an Faszinationskraft, die genau das zu versprechen scheinen. Also, hier kommt kein Schauspieler, hier kommt kein Profi, sondern hier kommt ein Mensch wie du und ich, ich könnte das auch sein in der Castingshow, ich könnte da auch der Kandidat sein. Das ist eine Faszination, die offensichtlich noch lange nicht ausgereizt ist. Also, die wirkliche Wirklichkeit als Inszenierung zu präsentieren, Authentizität als Schauspiel – das scheint das zu sein, was die Menschen heute fasziniert.

Heise: Und dann noch dazu ungebrochen, wenn das Ganze dann gelüftet wird oder wiederum ja enttarnt wird, dass dieser Mensch da überhaupt gar kein tatsächlich echter Naivling war, der sich aus Versehen vor der Kamera so und so gezeigt hat, sondern dass auch das alles wieder einstudiert war.

Bolz: Sie haben vollkommen Recht, wir sind offenbar unbegrenzt enttäuschungsfest, was unsere Authentizitätswünsche betrifft. Im Grunde weiß jeder, dass er betrogen wird und Medien sind immer auch eine Art Beihilfe zur Selbsttäuschung. Aber wir sind eben auch jeden Abend wieder bereit, uns ein bisschen betrügen zu lassen, weil man ohne diese Sehnsucht nach dem Authentischen offenbar nicht leben kann.

Heise: Jetzt war das Private früher mal was Inneres und das Außen, das war so soziale Maskerade. Hat sich das eigentlich vertauscht, beziehungsweise, ist da die Grenze verschwommen?

Bolz: Die klassische bürgerliche Trennungslinie zwischen privat und öffentlich, die gibt es heute offensichtlich so nicht mehr. Viele leiden darunter, vor allen Dingen die Älteren wie meinesgleichen, die darin einen großen Kulturverlust sehen, aber wenn man sich die Jugendlichen anschaut, zum Teil auch die eigenen Kinder, dann spürt man sehr deutlich, dass die solche Phantomschmerzen gar nicht mehr verstehen – diese Phantomschmerzen, die darin bestehen, dass einem das Privatleben geklaut wird, dass es bedroht wird durch die Scheinwerfer, durch die Medien, durch die Aufmerksamkeit der anderen. Die meisten sind ja heute – ich will nicht sagen, die meisten, aber viele – durchaus exhibitionistisch und voyeuristisch eingestellt der Welt gegenüber, sich selbst und anderen gegenüber. Das heißt, das, was ein Bürger als Bedrohung seiner Existenz empfinden würde, genießen diese Leute mit Lust. Also wir haben es hier offensichtlich doch zumindest bei sehr vielen Menschen mit einer ganz anderen Kultur und einem anderen Selbstverständnis zu tun.

Heise: Was immer wieder durchklingt bei Ihnen, ist so das Thema auch Verantwortung der Medien, das hört man eben durch. Sie haben vorhin auch gesagt, schwierig darzustellen, das muss ganz einfach gemacht werden, muss runtergebrochen werden. Wenn wir jetzt die Diskussion um neue Wahrheiten im Fernsehen der Mainzer Tage der Medienkritik, wenn wir dem mal vorgreifen, kann es eigentlich Wirklichkeit im Fernsehen, Wahrhaftigkeit im Fernsehen überhaupt geben?

Bolz: Ich glaube, man müsste die Frage anders stellen, man müsste die Frage stellen, ob es überhaupt für einen Menschen einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit gibt, wenn man so will, einen unverfälschten, echten, authentischen Zugang. Und da würde ich denken, das gibt es eben gar nicht. Wirklichkeit, unser Bild von der Welt ist immer konstruiert und es ist nur eine Frage, wie: Ist es konstruiert durch Bücher, die wir lesen, ist es konstruiert durch die Vorurteile, die wir ererbt haben oder übernommen haben, oder ist es konstruiert von elektronischen Medien, die uns die Welt in 15 Minuten präsentieren? Das ist eigentlich der wesentliche Unterschied, welche Medien prägen unser Bild von der Welt? Da gibt es Gott sei Dank noch große Unterschiede und das Bild dessen, der eine Kultursendung im Radio hört, ist immer noch ein anderes Bild als das Bild dessen, der die "Bild"-Zeitung liest oder der das "heute-journal" schaut. Das sind alles pluralistische Angebote unterschiedlicher Differenziertheit und jedem entspricht ein unterschiedliches Bild von der Welt. Ich glaube, dass es diese Vielfalt gibt, ist das letzte gute Zeichen, das wir haben.

Heise: Welche gesellschaftliche Funktion hat denn das Fernsehen dann noch in Bezug auf Wahrhaftigkeit heute und in Zukunft?

Bolz: Nun, Fernsehen hält vielleicht mehr als jedes andere Medium die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, nach Echtheit und Authentizität wach, aber sie kann diese Sehnsucht natürlich nicht befriedigen. Das Fernsehen ist im Wesentlichen ein Medium der Emotionen, der Sensationen und der Skandale, Differenziertheit hat im Fernsehen eigentlich kaum eine Chance und deshalb, glaube ich, sollte man dieses Medium auch nicht überfordern. Ich würde nicht so weit gehen, um zu sagen, es ist prinzipiell ein Unterschichtenmedium, aber es ist jedenfalls kein Medium der Hochkultur, der Differenziertheit und einer wirklich subtilen Orientierung in der Welt.

Heise: … sagt Norbert Bolz, Medienwissenschaftler an der Technischen Universität Berlin. Herr Bolz, vielen Dank für das Gespräch und einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch!

Bolz: Vielen Dank, Ihnen auch!

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