Noch mal davongekommen

05.09.2011
Eine Biografie aus Nachkriegsdeutschland: derb, abrechnend, fesselnd. Andreas Altman ist ein geschlagenes, ungewolltes Kind. Im frommen Altötting lebt er unter der Knute seines brutalen Erzeugers. Irgendwann entdeckt er das Schreiben und wird "von Null auf GEO-Reporter".
Die deutsche Sprache ist flexibel. Man kann ihr den Handke’schen "Niemandsbucht"-Ton entlocken: jeder Satz ein Samtpolster, das man streicheln möchte. Aber sie taugt auch fürs Drastische, wie Erwin Blumenfeld in seinem anstößigen "Einbildungsroman" genial gezeigt hat. Und nun Andreas Altmann, geboren 1949. Sein greller Zornauswurf "Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend" könnte als fiktionale Literatur durchgehen, hat jedoch den Wahrheitsgrad penibler Reportagen: Es dominieren Klarnamen; Altmann verweist auf Personen, die zur eidesstattlichen Versicherung bereit sind.

Der zweitgrößte Fluch in Altmanns jungem Leben war sein Geburtsort Altötting, "diese Oase bigotter Inzucht". Dort braucht etwa der Keuschheit predigende Pater A. ärztliche Hilfe, weil aus seinem Leibeseingang Flaschenreste ragen: "Höllenrotes Blut floss, da der gläserne Dildo ganz offensichtlich beim todsündenverseuchten Liebesspiel tiefer als vorgesehen versunken und – abgebrochen war." Altmanns größter Fluch aber war sein Erzeuger – wie er, frei nach Gottried Benn, schreibt: "Der Mensch, die Krone der Schöpfung, das Schwein. Mein Vater."

Der in Altötting hoch angesehene Rosenkranzhändler Franz Xaver Altmann, der als "SA-Null" und "SS-Null" seelisch zerfleddert den Krieg überstand, ist der Diktator in einem Reich der Finsternis, das man Familienleben nicht nennen kann. Er demütigt seine Frau Elisabeth, bis sie vor Angst regelmäßig die Kontrolle über die Schließmuskeln verliert. Er führt das Ordnungsregime eines KZ-Aufsehers. Er prügelt den notorischen Bettnässer Andreas, der sich als Nägelkauer, Nagelbettzerfleischer und Haareausreißer frühzeitig selbst zu zerstören beginnt, durch die Jahre.

Franz Xaver ist ein Wrack von monströser Größe – und "Scheißleben" ein Antikriegsbuch, so wie es andererseits mit dem Katholizismus abrechnet, der (bekanntlich nicht nur) Altötting zum Sodom perverser Scheinheiligkeit gemacht hat.

Unterhalb der rauen Wortoberfläche zeugt "Scheißleben" von Feinfühligkeit, Menschen- und Selbsterkenntnis. Das Drastische erweist sich als Deckmantel psychologischer Präzision und zärtlicher Empathie. Lange scheint es, als ob Altmanns "Scheißjugend" mit der Ermordung des Vaters (es kommt fast dazu) oder dem ersten Geschlechtsakt enden müsse. Denn die Sexualität des Daueropfers A. entwickelt sich problematisch. Und als Andreas mit einem Bruder ins Bordell fährt, hat das geschlossen. Tatsächlich endet Altmanns Selberlebensbeschreibung mit der Flucht aus dem Elternhaus.

Im langen Nachwort rundet sich das Werk – fast zum Bildungsroman. Altmann bleibt als Taxifahrer, Schauspieler, Urschrei-Therapierter, Poona-Reisender und Bücherdieb strikt auf der Verliererstraße; Anorgasmie ist nur eines seiner Leiden. Bis er das Schreiben entdeckt – "von Null auf GEO-Reporter" – und bald Kisch-Preisträger wird, Weltreisender, Erfolgsautor. Dass ihn seine Mutter nach der Geburt allen Ernstes ersticken wollte, weil er einen "Schwanz" hatte – so wie sein schrecklicher Vater – ist nur eine Pointe. Eine andere: Altmann erteilt dem Vater posthum vorsichtig Absolution. Er zeigt sich, uneingestanden, beseelt von christlichen Werten, zumal von der Liebe, die er entbehrt hat.

"Scheißleben" ist eine derbe Dosis Sprache. Ein Mahnmal auch gegen Lieblosigkeit. Ein gutes Buch übers Schlechte. Und darüber, wie einer gerade noch davonkam.

Besprochen von Arno Orzessek

Andreas Altmann: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend
Piper Verlag, München 2011
256 Seiten, 19,99 Euro