Niederländischer Blick

Ist Deutschland die korrekteste Nation der Welt?

Ein junge Frau trägt am 13.06.2012 vor einem Fernseher in Köln während des EM-Spiels Dänemark gegen Portugal Socken in den Deutschlandfarben und in den Farben der Niederlande. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft trifft am Abend bei der EM auf die Niederlande.
Enge Nachbarn: Deutsche und niederländische Farben mischen sich bei den Socken dieser TV-Zuschauerin © picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
Von Merlijn Schoonenboom · 01.03.2017
Viele seiner Landsleute hegen neuerdings eine überraschende Deutschlandliebe, meint der Niederländer Merlijn Schoonenboom – das habe an der Eurokrise und an Merkels menschlicher Flüchtlingspolitik gelegen. Diese Zuneigung kann aber schnell enden, warnt der Journalist.
Ich gebe zu, auch mich überraschte es. An dem Abend, als Angela Merkel 2013 zum dritten Mal gewählt wurde, war ich in einem berühmten Popkonzertsaal im Herzen Amsterdams. Eine hippe Werbeagentur hatte einen Abend der deutschen Politik organisiert, die "'Kanzlernacht". "Jeder" war dort, das heißt: viele bekannte Publizisten und Journalisten aus der Gruppe, die inzwischen ein bisschen hämisch die linksliberale Elite genannt wird. Man jubelte für Merkel und trank aus Bechern mit der Aufschrift "Wir lieben Deutschland".

Früher war Deutschland der große Feind

Natürlich, die Ironie war an diesem Abend fühlbar. Als ich 15 Jahre zuvor in Amsterdam studierte, galt Deutschland noch als der große Feind. Unsere Politiker setzten alles daran, die Macht des wiedervereinigten Deutschlands in Europa zu verringern. Wir Niederländer fanden uns tolerant und modern, die deutschen Nachbarn hingegen altmodisch, plump und wir hielten sie schlicht für Nazis.
Und nun? An jenem Abend philosophierten wir unbesorgt über die Aufgaben der neuen deutschen Macht. Die Sorgen gingen eher in eine andere Richtung: Auf dem Podium sprach man fast mitleidig von den deutschen politischen Eliten, die sich aus historischen Gründen nicht einmal trauten, das Wort "führen" in den Mund zu nehmen.
Es gibt viele Gründe für diese neue politische Deutschlandliebe, aber die Eurokrise war ohne Zweifel einer der wichtigsten. Es war der Moment, an dem Deutschland, völlig ungewollt, auf Grund seiner wirtschaftlichen Kraft eine neue prominente Rolle in der EU bekam.
In Regierungskreisen wurde Merkels finanzielle Strenge mit den Griechen gefeiert. Unsere angeschlagene Wirtschaft hoffte auf ebenfalls satte Umsätze durch das stabile deutsche Wachstum.
Deutschland altmodisch oder plump? Plötzlich wurde eine nordeuropäische Bruderschaft mit den fleißigen und sparsamen Deutschen entdeckt.

Flüchtlingspolitik als Inbegriff der Menschlichkeit

Die Flüchtlingskrise fügte der jungen politischen Liebe sogar noch eine ungeahnte Dimension hinzu. Ausgerechnet Deutschland entwickelte sich zumindest in den liberalen Medien zum Inbegriff lobenswerter Menschlichkeit. Wir arbeiteten uns am Erfolg der Rechtspopulisten ab, und die Deutschen schienen die korrekteste Nation der Welt geworden zu sein – auch mit der im internationalen Vergleich noch kleinen AfD.
Nach Trumps Wahl war die Rechnung dann auch schnell gemacht: England will nicht mehr, Frankreich kann nicht mehr, also gibt es nur noch einen, der nach dem Wegfall der Vereinigten Staaten die Rolle unseres großen Bruders spielen soll. Deutschland muss sich nun zum "Anführer der freien Welt" aufschwingen, schrieb ein linker niederländischer Publizist leidenschaftlich – und wenn es sein muss, sogar mit militärischer Kraft, fügte ein anderer hinzu.
Hat Deutschland nun endlich einen zufriedenen Nachbarn? So einfach ist es auch wieder nicht. Merkels finanzielle Strenge in der EU konnte noch auf Applaus rechnen, aber ausgerechnet ihre "liberalen Werte" sind in den Niederlanden anno 2017 schwer umkämpft. Deutschlands Flüchtlingspolitik, von der liberalen Publizistik bejubelt, ist für den neu-rechten Politiker Geert Wilders ein gefährliches Einfallstor für Terroristen.

Was wird, wenn die PVV stärkste Partei wird?

Bei der aktuellen Wahl könnte seine PVV sogar zur stärksten Partei des Landes gewählt werden; und dann könnte es mit der neu entdeckten politischen Liebe zu Deutschland schnell wieder vorbei sein. Falls in diesem September in Amsterdam überhaupt noch eine Kanzlernacht organisiert wird, würden manche da bestimmt auch über eine unerwünschte "deutsche Dominanz" in der Flüchtlingspolitik reden wollen.
Es ist das Paradox der neuen internationalen Rolle, die Deutschland von der Welt aufgedrängt bekommen hat. Das Land möchte so gern vom Ausland geliebt werden, aber selbst ein noch so humanes Gesicht ist dafür keine Garantie – auch nicht in den Niederlanden.

Merlijn Schoonenboom, geboren 1974, arbeitet als Journalist und Autor in Berlin. Er war bis 2013 Deutschland-Korrespondent für die niederländische Tageszeitung 'de Volkskrant', seitdem arbeitet er als freier Journalist, unter anderem für die Wochenzeitung 'de groene Amsterdammer'. 2013 erschien sein Buch 'Waarom we ineens van de Duitsers houden (maar ze daar zelf van schrikken)' (Warum wir plötzlich die Deutschen lieben (sie selbst aber davor erschrecken). Für seine Arbeit als Korrespondent erhielt er den Kulturpreis Niederlande Deutschland.

© Deutschlandradio / Heike Tauch
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