Niedergang der Musikkultur im "Dritten Reich"

Immer nur lächeln, immer vergnügt?

Verschiedene Bilder sind am 06.01.2014 in der Ausstellung "Entartete Musik" in der Tonhalle in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) auf einer Stellwand zu sehen.
Verschiedene Bilder sind am 06.01.2014 in der Ausstellung "Entartete Musik" in der Tonhalle in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) auf einer Stellwand zu sehen. © picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
Von Helmut Braun · 30.01.2016
Der Rassenwahn der Nationalsozialisten machte auch vor der Musik nicht halt. Rein sollte die deutsche Musik sein, rein von allem Undeutschen, Nichtarischen. Die jüdischen Musiker, die Dirigenten, die Sänger und Sängerinnen, die Intendanten verloren ihre Anstellungen.
Rundfunk und Film waren willige Vollstrecker dieser offiziösen Verweigerung. Jüdische Komponisten, wie Schönberg, Weill, Korngold, Hollaender, Nelson, May, Abraham durften ihre Werke nicht mehr aufführen. Auch sie wurden verfemt, verdrängt, verboten. Doch auch Nichtjuden traf die Ächtung der Nationalsozialisten: der "atonale" Hindemith erhielt Aufführverbot, der "Niggermusik" schreibende Ernst Krenek ebenso, verpönt waren die Lieder der "Eunuchen", der Comedian Harmonists, die Songs der "Vaterlandsverräterin" Marlene Dietrich.
Zwischen zackigen Aufmärschen und Operettenseeligkeit vollzog sich der Niedergang der Musikkultur unter den Augen und dem Beifall einer breiten Öffentlichkeit. Im bewussten Kontrast zu einer Auswahl sogenannter entarteter Musik dokumentiert die Lange Nacht diesen Prozess in Originaltönen und -dokumenten.
Produktion: Deutschlandradio 2000

Musik und Rassenfrage

In den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts wandelte sich die Musik in Deutschland grundlegend. Komponisten wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Kurt Weill, Ernst Krenek oder Erich Wolfgang Korngold prägten das Musikleben und führten es zu neuen Höhepunkten. Nie zuvor war die Kunst der Sängerinnen und Sänger und der Instrumentalvirtuosen so vollkommen.

Nie zuvor verlangte ein auf dem Vulkan tanzendes Publikum so exzessiv nach neuen Schlagern, Operetten, Revuen, Filmen. Es förderte damit die Musik eines Friedrich Hollaender, eines Rudolf Nelson, Hans May, Paul Abraham, Leo Fall und vieler anderer. Die "cross-over"-Tenöre Richard Tauber und Joseph Schmidt feierten Triumphe. Die Comedian Harmonists hatten kometenhafte Erfolge, Lotte Lenya und Marlene Dietrich begannen ihre Weltkarrieren.

Nicht unerwartet, da seit Jahren von ihnen angekündigt, beendeten die deutschen Nationalsozialisten, nach ihrer Machtübernahme 1933 die Vielfalt in der deutschen Musik. Musik wurde zur Rassenfrage. Willig folgte die große Mehrheit der Deutschen ihren ideologischen Führern Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg und das auch bei dem Vorhaben, das sogenannte jüdische Element in der deutschen Musik auszumerzen.

Doch nicht nur deutsche Staatsbürger jüdischer Herkunft standen unter dem Bann des nationalsozialistischen Rassenwahns - alles "Undeutsche" war zu vernichten. So traf es auch den Komponisten Paul Hindemith wegen seiner atonalen Werke, es darf den "Niggermusik" komponierenden Ernst Krenek, die als "Eunuchen" verschrieenen Comedian Harmonists und die "Vaterlandsverräterin" Marlene Dietrich.

Buchtipp:

Michael H. Kater
Die mißbrauchte Muse
Musiker im Dritten Reich
Europa Verlag 1998

Eva Weissweiler
Ausgemerzt! Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen
Ditrrich Verlag 1999

Unliebsame Komponisten

Der jüdische Komponist Gustav Mahler, mit dem der Aufbruch in ein neues Musikjahrhundert begann, starb am 19. Mai 1911 in Wien an einer Krankheit des Herzens.

Der jüdische Komponist Alexander Zemlinsky emigrierte 1938 über Prag in die USA, wo er am 15. März 1942 in Larchmont (New York) starb.

Der in einer jüdischen Familie geborene Felix Mendelssohn-Bartoldy wurde bereits als Kind getauft und christlich erzogen. Seine Kompositionen waren im 19. Jahrhundert wegweisend.

Der arische aber "undeutsche" Komponist Paul Hindemith zog sich 1938 in die Schweiz zurück und emigrierte 1940 in die USA.

Alban Berg - nach nationalsozialistischer Terminologie ein "Arier" - ein Schüler Arnold Schönbergs. Als atonaler Komponist war er den Nationalsozialisten verhasst. Seine Opern Wozzeck und Lulu gehören wegen ihrer kompositorischen Vollendung zu den herausragenden Zeugnissen des Musiktheaters im 20. Jahrhundert. Berg starb am 24. Dezember 1935 an einer Blutvergiftung in Wien.

Die Dreigroschenoper wurde ein triumphaler Erfolg: 200 Aufführungen in einer Spielzeit allein in Berlin! Voll Hass verfolgten die Nationalsozialisten den Komponisten Kurt Weill - nach der Rassenideologie der Nationalsozialisten ein "Jude".

Er emigrierte, begleitet von seiner Frau Lotte Lenya über Paris und London 1935 nach New York. Mit seinen Musicals reihte er dort Erfolg an Erfolg. Er starb am 3. April 1950.

Arnold Schönberg "erfand" die sogenannte atonale Zwölftönemusik und damit den vermeintlichen Untergang des "germanischen Dreiklangs". Die deutschen Nationalsozialisten verfolgten ihn, ihn und sein Werk. Er emigrierte 1933 in die USA und starb am 13. Juli 1951 in Los Angeles.

Der nach nationalsozialistischer Rassenideologie arische Ernst Krenek wurde mit seiner Jazzoper "Jonny spielt auf", die ein Sensationserfolg war, zum vielgeschmähten Komponisten von "Niggermusik". Als "undeutsch" und "entartet" eingestuft, emigrierte der Österreicher Ernst Krenek1938 in die USA, wo er bis zu seinem Tode 1991 in Palm Springs in Kalifornien lebte.

Berthold Goldschmidt komponierte und dirigierte in Hamburg, Berlin und Darmstadt, bis er als Jude verfemt 1935 nach England emigrierte. Nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland feierte der Deutschland vergessene Komponist 1994 ein triumphales Comeback mit seiner Oper "Der gewaltige Hahnrei". Goldschmidt starb dreiundneunzigjährig am 17. Oktober 1996 in London.

Erich Wolfgang Korngold wuchs als musikalisches Wunderkind auf. Seine Oper "Die tote Stadt" war ein Sensationserfolg in den 20er Jahren. 1934 emigrierte er, in Deutschland als "Jude" ausgegrenzt in die USA, wo er als Filmkomponist große Erfolge feierte.

Otto Klemperer, geboren am 15. Mai 1885 in Breslau, Dirigent und Komponist. Emigriert 1935 in die USA. Später wird er israelischer Staatsbürger.

Richard Strauss war in der 1. Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der erfolgreichste deutsche Komponist. Er arrangierte sich zunächst mit den nationalsozialistischen Machthabern. Er wurde 1935 als Präsident der Reichsmusikkammer entlassen und von den Nazis wegen seiner jüdischen Verwandtschaft erpresst.

Ausgrenzung

Die Verfemung und Ausgrenzung der - im Jargon der Nazis - "Musikjuden" und ihrer Werke erfolgt "legal" auf der Basis von Gesetzen, Erlassen und Verordnungen. Bereits im April 1933 wird das Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen; Damit werden alle sogenannten Nichtarier vom Staatsdienst ausgeschlossen. Sofort entlassen werden alle jüdischen Professoren an den Musikhochschulen, die jüdischen Generalmusikdirektoren, Intendanten, Dirigenten, Dramaturgen und ihrer jüdischen Mitarbeiter an den Theatern und Opernhäuser. Die jüdischen Musiker in den Staats- und Landesorchestern verlieren umgehend ihre Stellen.

Die Flut der einschränkenden, schikanösen, später auch tödlichen Gesetze und Verordnungen sind unter dem Begriff "Das Sonderrecht für Juden im NS-Staat" gesammelt und füllen mehrere dickleibige Bände. 1938 haben es die deutschen Rassisten geschafft: Juden sind aus dem Musikleben verdrängt, sie dürfen vor "arischem" Publikum nicht mehr auftreten, die Aufführung der Musik jüdischer Komponisten vor solchem Publikum ist verboten. Juden dürfen öffentliche Konzerte als Zuhörer nicht länger besuchen.

"Entartete Musik"

Eine abschreckende Schau soll die Ausstellung "Entartete Musik" auf den Reichmusiktagen im Mai 1938 in Düsseldorf sein. Staatsrat Dr. Hans Severus Ziegler, Intendant am Staatstheater in Weimar, überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde, Hitlerverehrer auch noch zwanzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, zeichnete für die Ausstellung verantwortlich. Er sagte in seiner Eröffnungsrede:

"Was in der Ausstellung Entartete Musik zusammengetragen ist, stellt das Abbild eines wahren Hexensabbath und des frivolsten geistig-künstlerischen Kulturbolschewismuses dar und ein Abbild des Triumphes von Untermenschentum, arroganter jüdischer Frechheit und völliger geistiger Vertrottelung."

Herbert Gerigk war Leiter des Amtes Musik, einer Unterabteilung des Amtes Rosenberg. Seine Mitarbeiter koordinierten und überwachten die Ausgrenzung der sogenannten "Musikjuden". Auf Betreiben Gerigks erscheint 1940 das "Lexikon der Juden in der Musik." Mit dieser Publikation sollte sichergestellt werden, dass die deutsche Musik rein, "judenrein" wird. Selbst jüdische Klavierlehrerinnen sind aufgeführt und dürfen nicht mehr unterrichten: arisch soll sie sein, die Musikerziehung der deutschen Jugend. Häufig führt der Eintrag in dieses Lexikon zur späteren Deportation der Aufgelisteten.

Von 1933-1940 emigrieren 262.000 Deutsche aus jüdischen Familien aus Deutschland. Unter ihnen sind auch sogenannte "Musikjuden". Die Stellen der verleumdeten Komponisten, Interpreten und Lehrer im Musikbetrieb werden frei und schnell besetzt. Von Nachrückern, die nun vorrücken und ungehindert Karriere machen. Darunter manch einer, der wie Werner Egk, Carl Orff, Karl Böhm und Herbert von Karajan, auch nach dem Dritten Reich die Glanzlichter im Musikleben setzt...

Buchtipp:

Jens Malte Fischer
Richard Wagners 'Das Judentum in der Musik'
Insel Taschenbuch 2000

Alfred A. Fassbind
Joseph Schmidt
Ein Lied geht um die Welt - Spuren einer Legende
Eine Biographie, Schweizer Verlagshaus 1992

Donald Spoto
Marlene Dietrich
Die große Biographie
Heyne Filmbibliothek 2000

Eberhard Fechner
Die Comedian Harmonists
Sechs Lebensläufe
Heyne Verlag 1999

Die Bedeutung des Rundfunks

Der Rundfunk war nach den gleichgeschalteten Zeitungen das zweite Massenmedium, welches die Nationalsozialisten für ihre Zwecke nutzten. Goebbels betonte immer die große Wichtigkeit des Rundfunks bei der schnellen und direkten Beeinflussung der Bevölkerung. Die Verbreitung des preiswerten "Volksempfängers", mit dem nur das deutsche Radioprogramm empfangen werden konnte, wurde deshalb vom Staat nachhaltig gefördert.

Der Rundfunk war - wie sein Reichsintendant Heinrich Glasmeier stolz anmerkte - die Institution, die am schnellsten "judenrein" war. Die Programme wurden einheitlich an der nationalsozialistischen Ideologie ausgerichtet die Mitarbeiter darauf eingeschworen.

Der Druck auf die sogenannten "Musikjuden" machte selbst vor dem Unterhaltungsbereich nicht halt. Auch hier waren Juden und ihre Werke auszumerzen, auch hier musste gegen die "Niggermusik" vorgegangen werden, ein spezielles Anliegen des Reichsleiters der NSDAP Alfred Rosenberg.Die Ausschaltung des vermeintlich Artfremden, Entarteten, Undeutschen gelang so auch in der Unterhaltungsmusik und im Film. Sicher wurden im Privaten die beliebten Melodien weiter gesummt, aus der Öffentlichkeit aber waren sie verbannt.

Die Situation nach Kriegsende

Wer nun glaubt mit dem Ende des Dritten Reiches sei der Ruin der deutschen Musikkultur beendet gewesen, der irrt. Viele Deutsche waren nicht bereit, die Emigranten - sofern sie zurückkehrten - freundlich und wohlgesonnen zu begrüßen. Auch die mehr als ein Jahrzehnt ausgegrenzte Musik fand nur schwer in den "Musikbetrieb" zurück. Natürlich wurden Offenbach und Mendelssohn sofort wieder gespielt, aber Gustav Mahler - dessen Werk heute gut die Hälfte der Konzertprogramme der großen Orchester ausmacht - bedurfte der "Wiedereinführung" durch berühmte amerikanische Dirigenten und Orchester.

Ein vom Publikum enttäuschter Erich Wolfgang Korngold zog sich 1955 endgültig in die USA zurück. Der bis 1933 vielgespielte und gefeierte Karol Rathaus wurde nach 1945 im Rundfunk und in Konzertprogrammen kaum mehr beachtet. Gäbe es nicht einige Bemühungen wie die des Vereins musica re animata, gäbe es nicht die Einspielungen in der Reihe Entartete Musik des DeutschlandRadios und gelegentliche Musikfestivals, die sich im Rahmen moderner Musik auch der verfemten deutschen Komponistenaus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts annehmen, wäre das Vorhaben der Nationalsozialisten, das sogenannte Judentum in der Musik auszumerzen, tatsächlich weitgehend gelungen.

CD-Empfehlungen:
Entartete Musik Willkommen in Deutschland - ein Gedenkkonzert
Die Toten Hosen mit dem Sinfonieorchester der Robert Schumann Hochschule
Kurt Weill
Die Dreigroschenoper Capriccio

the klemperer legacy
Klemperer - Merry Waltz

Weill - Kleine Dreigroschenmusik

Hindemith - Nobilissima visione
EMI Classics

Mahler
Das Lied von der Erde
Dirigent: Otto Klemperer
EMI Classics

Alexander von Zemlinsky
Sämtliche Orchesterlieder
Dirigent: James Conlon
EMI Classics

the klemperer legacy
A Midsummer Night´s Dream
Felix Mendelssohn-Bartholdy
EMI Classics

a midsummer nights dream
Erich Wolfgang Korngold
Max Reinhardt
cpo

Kurt Weill
Mahagonny-Suite
Dirigent: Frank Pter Zimmermann
EMI Classics

Marlene Dietrich
Mythos und Legende
EMI

Comedian Harmonists
Original Musik aus dem Film
EMI

Comedian Harmonists
Die großen Erfolge 2
EMI

Joseph Schmidt
Sämtliche EMI-Aufnahmen, Vol. 2
EMI Classics

Eine nationalsozialistische "Karriere": Carl Orff

Der Höhenflug den Carl Orff in der Zeit des Dritten Reiches als Komponist erlebte, übertraf die Erfolge seines Freundes Egk bei weitem. Über den Opportunisten Orff sagt Michael Kater:

Orff engagierte sich im Kulturbetrieb des Dritten Reiches, und zwar so sehr, dass seine künstlerische und persönliche Integrität ins Zwielicht geraten musste. Das geschah durch seine Neuvertonung von Shakespeares Sommernachtstraum. Der Auftrag dazu wurde ihm vom Frankfurter NS-Kreisleiter Dr. Fritz Krebs erteilt, dem schon die Uraufführung der Carmina Burana sehr gefallen hatte. Orff wurden im Frühjahr 1938 fünftausend Mark angeboten; trotz Zeitdruck willigte er ein, und am 14. Oktober 1939 hatte das Werk unter Hermann Laternser auf der Frankfurter Opernbühne Premiere. Orff wusste genau, dass diese Auftragsarbeit das Ziel hatte, "den nicht arischen Mendelssohn aus dem Geschäftsleben ausscheiden zu lassen," wie sich sein Verleger ihm gegenüber einmal ebenso zynisch wie unmißverständlich äußerte. Der von Antisemitismus gewiß nicht freie Hans Pfitzner hatte ein solches Ansinnen rundweg abgelehnt, und auch Richard Strauss hatte verächtlich angemerkt: "Herr Rosenberg predigt nach wie vor Weltanschauung: Resultat eine neue Musik zum Sommernachtstraum."
Bereits im Sommer 1941 begann Baldur von Schirach, Gauleiter in Wien Gespräche mit Orff wegen eines "Werkvertrags", der den Komponisten auf Jahre hinaus finanziell absichern, zugleich aber der Wiener Bühne Auftragsarbeiten von Orff garantieren sollte. Orff schloß für 1000 RM im Monat mit Wien ab und nahm als ersten Auftrag die Oper "Antigonae" entgegen, zu der bereits seit Anfang 1941 feste Pläne bestanden. Orff erhielt aus Wien bis zum Ende des Krieges 36.000 Mark und schien zum ersten Male in seinem Leben wirtschaftlich auf festen Füßen zu stehen.

Doch dann kam die Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Diktatur und Orff stand, wie viele seiner Freunde und Kollegen, künstlerisch und beruflich vor dem Nichts. Die alliierten vier Besatzungsmächte hatten im Frühjahr 1945 kaum eine Vorstellung von der Funktion der kulturellen Elite im Dritten Reich, weder im positiven noch im negativen Sinne.

Die amerikanische Militärregierung in Bayern versuchte, ehemalige Nationalsozialisten zu identifizieren und zugleich sollten progressive deutsche Kräfte die zwölf Jahre lang totalitär strukturierten Institutionen demokratisieren.Michael Kater schreibt in "Die mißbrauchte Muse":

"Orff erkannte, dass er sich während des Regimes in sehr konkreten Punkten mehr als notwendig kompromittiert hatte, er zog offenbar die Möglichkeit in Betracht, sich vor der amerikanischen Militärregierung auf einen Schlag reinzuwaschen: Konnte er sich nicht als Opfer des Nazismus darstellen und damit den lästigen und möglicherweise nachteiligen Prozeduren der Entnazifizierung entgehen? Also behauptete Orff, er sei von den NS-Behörden wegen des "undeutschen" Charakters seiner Kompositionen und seiner Sympathie für die Juden verfolgt worden. Und obendrein erzählte er 1946 einem Offizier der amerikanischen Besatzungsbehörden, dass er Gründungsmitglied der Widerstandgruppe "Weiße Rose" unter der geistigen Führung des Münchner Professors Kurt Huber gewesen sei, deren Mitglieder 1943 fast alle verhaftet, des Hochverrats angeklagt und hingerichtet worden waren."

Gestützt auf diese Aussage und ohne weiteres Aufhebens stuften die Amerikaner Orff als einen "Mitläufer" der harmloseren Art ein und erlaubten die Uraufführung seines soeben beendeten bayrischen Stücks "Die Bernauerin" im Juni 1947 in Stuttgart mit seiner Tochter Godela in der Titelrolle. "Orffs Geschichte war eine Erfindung. Er war niemals in die Verschwörung der "Weißen Rose" eingeweiht. Und Orffs Witwe Gertrud bestätigt: "Orff war nicht dabei, nicht verwickelt."

Orff setzte seine Karriere in der Bundesrepublik Deutschland nahtlos fort. Eine Auseinandersetzung über sein Verhalten im Dritten Reich fand nicht statt. Die Verdrängung dauert bis heute an: Nur so ist es zu erklären, dass sich das Bundesland Bayern auf der Expo 2000 in Hannover während seiner "Länderwoche" mit Werken von Werner Egk und besonders auffällig mit Kompositionen von Carl Orff, darunter auch seiner Oper "Die Bernauerin", präsentierte.

Wie deutsch ist die Musik? Ansätze zur Vergangenheitsbewältigung in der Musikwissenschaft
Von Eckhard John, in : Neue Zürcher Zeitung, 28.10.2000

Über Jahrzehnte war die nationalsozialistische Vergangenheit der deutschen Musikwissenschaft tabuisiert. Inzwischen gibt es einige Ansätze der Vergangenheitsbewältigung, wovon nicht zuletzt eine Reihe von Neuerscheinungen zu diesem Thema zeugt. Die Publikationen sind allerdings von sehr unterschiedlichem Ertrag.
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