Nie waren Fehler schöner

Von Jochen Dreier · 06.02.2013
Wenn das Fernsehbild stockt und einfriert, dann nennt man diesen Fehler Glitch. Und daraus wurde mittlerweile sogar eine Kunstform. Längst wurde ein virtuelles Museum ins Leben gerufen und überall auf der Welt wird über die Glitch-Art diskutiert.
Um zu verstehen, wie ich in die Situation gekommen bin, am frühen Abend eines ganz normalen Wochentages an meinem Schreibtisch zu sitzen, und über das Internet mit Menschen aus Manchester, Amsterdam und Seoul Karaoke zu singen, müssen wir die Zeit etwas zurückdrehen. Und auch um zu verstehen, warum es unglaublich schön war, obwohl es so wahnsinnig grausam klingt.

Angefangen hat alles damit, dass mir in letzter Zeit immer häufiger der Begriff Glitch-Art und Glitch-Kunst untergekommen ist. In Blogs, in Magazinen oder bei Twitter. Ich musste da mal nachforschen.

Dabei war mit der Begriff Glitch eigentlich schon länger bekannt, trifft man doch besonders häufig in Computerspielen auf sogenannte Glitches. Dabei hängt der Protagonist ungewollt in einer virtuellen Hauswand fest, weil die physikalischen Eigenschaften des Spiels plötzlich nicht mehr so wie gewollt funktionieren.

Das Wort Glitch ist aber keine Erfindung der letzten Jahre. Eine Theorie ist, dass Glitch über das deutsche Wort glitschig, also rutschig und das sehr ähnliche yiddische Wort glethsen, mit jüdischen Emigraten vor dem Zweiten Weltkrieg in den angloamerikanische Raum ausgewandert ist. Dort wurde es seit dem von Elektrotechnikern benutzt, wenn es eine Fehlschaltung gab.

Da Computersysteme eben auch im großen und ganzen Elektrotechnik sind, zog das Wort so in die Umgangssprache der Programmierer ein. Eine weniger wissenschaftliche Erklärungen lautet übrigens, dass Glitch nur die Abkürzung für "Gremlins Living In The Computer Hardware" ist.

Heutzutage werden wir alle, ohne es groß wahrzunehmen, ständig mit Glitches konfrontiert. Es ist das verschwommene, verpixelte Bild im Livestream oder bei schlechtem Empfang am Digitalfernseher, es sind die Aussetzer und verzerrten Stimmen beim Skypegespräch, es ist das seltsame Bild, das auf Facebook entstanden ist, als ein Übertragungsfehler aus unserem Urlaubsfoto ein surreales Farbgemisch gemacht hat.

Dadurch, dass diese Fehler allgegenwärtig sind, ist eine neue Ästhetik entstanden, sagen die sogenannten Glitch-Artists. Sie sammeln diese Fehler in Bildern, Sounds oder Videos, versuchen sie sogar selber herzustellen, in dem sie Dateien mit den falschen Programmen öffnen und somit ein fehlerhaftes Ergebnis erzielen. Zum Beispiel eine exe-Datei mit einem Soundprogramm. Das klingt dann so:

Daniel Rourke, Glitch-Künstler und Doktorand an der Goldsmith Kunsthochschule in London, glaubt, dass die Entwicklung von Computern und moderner Technik dafür steht, dass der Mensch perfekt und fehlerfrei sein will. Das klappt aber eben nicht.

"Die Natur ist ein chaotischer Ort. Fehler, also Mutationen, pflanzen sich im System immer weiter fort und so entsteht Evolution. Und für einen Computer ist das ein Problem, denn wenn du die Nullen und Einsen änderst, dann werden auch immer Fehler entstehen, dabei sind ja gerade diese Berge von Software dafür gemacht die Fortpflanzung des Fehlers zu stoppen.

Was uns aber doch so menschlich macht, sind eben diese kleinen Fehler, auch wenn wir gegen sie kämpfen. Der Glitch manifestiert diese Tendenz. Es ist mehr als nur eine Metapher, es ist fast wie eine Darbietung dieses Anspruchs des Menschen perfekt sein zu wollen, aber das er es eben nicht schafft."

Kim Kyoung, Kollegin von Daniel an der Goldsmiths Universität und ebenfalls Glitch-Artist, erklärt, dass gerade die Vernetztheit der Welt den Glitch so populär und erfolgreich gemacht hat.

"Ich glaube, es ist kein Wunder, dass Glitch und die ganze Philosophie darum momentan so groß ist. Es ist nicht so, als wäre es vorher nicht dagewesen, aber heute werden Fehler anders wahrgenommen, verbreitet und behoben, weil wir alle vernetzt sind. Menschen und Computer sind übereinander und miteinander vernetzt, ganz anders als vielleicht vor 30 Jahren. Die Frage ist also nicht, ob die Maschine etwas menschliches widerspiegelt, sondern nach der Beziehung zwischen beiden."

Und so riefen die beiden Künstler ein Projekt ins Leben, bei dem sich fremde Menschen aus der ganzen Welt eben über das weltweite Netz treffen, um grausame Songs aus den 80er-Jahren nachzusingen – die Glitch-Karaoke.

"Als wir das Projekt weiter entwickelten, merkten wir, wie sehr die Fehler und Glitches, die wir gesucht haben, mit der normalen Karaoke als Kommunikationsform zusammenhängen. Wenn du deine Version eines Popsongs singst, dann geht s nicht darum, dass du perfekt bist, du machst es , weil du in einem Raum mit deinen Freunden bist oder weil du den Song so gerne magst. Diese ganzen schlechten Stimmen und das schlechte Timing, die schlechten Videos und Midi-Songs die dazukommen, machen alles nur noch schöner. Die Schönheit liegt im Fehler."

"Wir versuchen auch nicht absichtlich Fehler hervorzurufen. Wenn es funktioniert und es keinen Hall oder Feedback gibt, dann ist das auch gut. Aber gerade da es so viele Variablen gibt, wie groß sind die Räume, wie viele Menschen sind online, singen sie mit Headset etc., ist es fast natürlich, dass Fehler entstehen. Wir sehen eine Ästhetik in den sozialen, wie auch in den technologischen Glitches."

Und so kam es dazu, dass ich wochentags, abends an meinem Schreibtisch saß und mit wildfremden Menschen über das Netz gesungen habe. Es klang zwar meist schrecklich, aber es war ein wunderbares und höchst unterhaltsames Erlebnis.

Denn ab jetzt genieße ich jeden Glitch im Fernsehbild, jeden Fehler im Computerspiel und jedes Störgeräusch im Skype-Telefonat, weil es mich daran erinnert, dass irgendwo auf der Welt zwar jemand versucht, etwas perfektes zu schaffen, aber immer noch nicht erfolgreich war. Wenn man sich dessen bewusst wird, fühlt man sich doch gleich viel wohler mit seinem hakendem Betriebsprogramm, seinem fehlerhaften Smartphone und überhaupt in seiner eben nicht ganz perfekten Haut.