Nie versiegender Enthusiasmus

12.01.2011
Die Argentinierin Victoria Ocampo war Mäzenin, Mittlerin, Autorin, frühe Feministin und Briefpartnerin der halben Intelligentsia der Welt. Ein Auswahlband präsentiert ihre kulturkritischen Essays und lebhaften Erinnerungen erstmals auf deutsch.
An der Zeitschrift "Sur" kommt niemand vorbei, der sich mit lateinamerikanischer Literatur im 20. Jahrhundert beschäftigt. In ihr publizierten wichtige amerikanische Autoren – u. a. Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Gabriela Mistral – und europäische Geistesgrößen, von José Ortega y Gasset bis Virginia Woolf. Gründerin dieser 1931 entstandenen Zeitschrift sowie des ebenso wichtigen, zwei Jahre später etablierten gleichnamigen Verlags war die Schriftstellerin Victoria Ocampo (1890-1979). Als scharfsichtige Essayistin und Kulturkritikerin, als Herausgeberin, als Mäzenin für Autoren, Musiker, Künstler, Philosophen und als Briefpartnerin der halben Intelligentsia der damals bekannten Welt ist Ocampo ohne Zweifel eine der bedeutendsten Köpfe der argentinischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.

In die reiche, großbürgerliche, kosmopolitische Bildungselite Argentiniens hineingeboren, waren ihr Paris und London, die englische und die französische Sprache und Literatur ebenso vertraut wie Buenos Aires und die (süd-)amerikanische Kultur. Zeitlebens vermittelte sie zwischen Europa und Amerika, förderte die aufblühende argentinische Literaturszene ebenso wie sie die etablierten europäischen Intellektuellen nach Argentinien einlud und in Südamerika bekannt machte.

Ihr eigenes Werk besteht vor allem in einer Vielzahl von literatur- und kulturkritischen Essays, die in zehn Bänden unter dem Titel "Testimonios" gesammelt sind, sowie in einer sechsbändigen Autobiografie, in der sie unter anderem ihre vielen Begegnungen mit interessanten Zeitgenossen lebhaft und eingängig schildert.

Angesichts des Rangs dieser Autorin, Zeitzeugin und frühen Feministin ist es mehr als erstaunlich, dass noch immer keines ihrer Werke auf Deutsch übersetzt ist. Einen kleinen Anfang bildet nun der von Renate Kroll herausgegebene Band, der eine Auswahl aus den autobiografischen Schriften und einiges aus den Essays und zahlreichen Korrespondenzen zusammenstellt, begleitet von ausführlichen Kommentaren und Zwischenerklärungen.

Der Band gibt einen guten ersten Einblick in die Welt und das Denken von Victoria Ocampo, von ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen über die frühe Heirat und frühe Scheidung, die zunehmende Emanzipation von den Einschränkungen, die ihr eine patriarchale Gesellschaft auferlegte, bis zu den wichtigen intellektuellen Begegnungen und dem literarischen Austausch mit u. a. Rabindranath Tagore, Hermann Graf Keyserling, Pierre Drieu la Rochelle, Waldo Frank, Virginia Woolf, Gabriela Mistral, Roger Caillois und – spät noch – Susan Sonntag.

In Ocampos essayistischer Prosa und durch ihren offensichtlich nie versiegenden Enthusiasmus für jede von ihr als interessant wahrgenommene Kunstform, erhält man faszinierende Einblicke in das literarische Leben und die großbürgerlich geprägten Kulturkreise der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einziges Problem des Bandes ist die Knappheit der Auswahl: Gerne würde man mehr lesen von Victoria Ocampo.

Besprochen von Catherine Newmark

Victoria Ocampo - Mein Leben ist mein Werk. Eine Biographie in Selbstzeugnissen

Herausgegeben, kommentiert und übersetzt von Renate Kroll.
Aufbau Verlag, Berlin 2010
339 Seiten, 22,95 Euro