Nida-Rümelin: Gesetzgeber ist bei Beschneidung in der Pflicht

Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit Nana Brink · 16.07.2012
Nach Ansicht von Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universtität München, muss der Gesetzgeber in der Beschneidungsdebatte handeln. Die jetzige Situation sei ungut, weil sie für die Mediziner ein juristisches Risiko beinhalte.
Nana Brink: Seit dem Urteil eines Kölner Gerichtes, das die rituelle Beschneidung von Jungen als Körperverletzung ansieht, ist eine heftige gesellschaftliche Debatte bei uns darüber entbrannt, was denn Religion darf oder auch nicht. Und was gesetzlich geregelt werden muss. So hat zum Beispiel der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, Deutschlands Politiker in dramatischen Worten aufgefordert, die rituelle Beschneidung schnell durch ein Gesetz zu legitimieren.

Die Politiker müssten jetzt handeln und dürften sich nicht, so wörtlich, "feige wegducken". Aber nicht nur die Beschneidung, sondern auch die Schächtung von Tieren, wie sie sowohl bei Muslimen als auch bei den Juden üblich ist, oder auch das Kopftuch wirft ja immer wieder die Frage auf, wie leben wir denn eigentlich zusammen in einem säkularen Staat, der aber die Religionsfreiheit respektiert. Und am Telefon begrüße ich jetzt Professor Julian Nida-Rümelin von der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Schönen guten Morgen, Herr Nida-Rümelin!

Julian Nida-Rümelin: Ja, guten Morgen. Ich bin nicht mehr Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie ...

Brink: Aber Sie sind noch dort bei der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Trotzdem einen schönen guten Morgen. Lassen Sie uns einsteigen in die Diskussion um die Beschneidung. Die ist ja gerade ganz aktuell, und sie ist nicht nur eine juristische und nicht nur eine medizinische, sondern vor allen Dingen auch eine moralische. Hat denn die Philosophie darauf eine Antwort? Haben Sie darauf eine Antwort?

Nida-Rümelin: Also, die Philosophie hat eine ganz zentrale Rolle gespielt bei der Entwicklung der Menschenrechte. Die Vorstellung damals war ja die: Es gibt eine Herrschaftsordnung von Natur, die Kirche oder der Fürst entscheidet darüber, was richtig und falsch ist. Und es waren Philosophen, die dagegen geltend machten, dass Menschen gleichermaßen vernunftbegabt sind, dass es daher keine Unterordnung von Natur gibt und dass sich alle Herrschaft gegenüber allen rechtfertigen muss. Das war im Wesentlichen ein philosophischer Impuls, der dann natürlich auch im Zusammenhang mit sozialen und historischen Prozessen stand, aber am Ende zur Demokratie geführt hat. Man sollte also die Philosophie, die Rolle der Philosophie nicht unterschätzen.

Brink: Wenn wir auf diese konkrete Debatte jetzt ja zurückkommen: Was kann denn da Philosophie raten? Genau auch in der, sozusagen, Debatte zwischen Religion und Staat?

Nida-Rümelin: Also ich kann als praktischer Philosoph raten, ich kann nicht sagen, was die Philosophie als solche rät. Weil, da gibt es natürlich, genauso wie in allen anderen Disziplinen, unterschiedliche Auffassungen. Ich denke, dass die Philosophie nicht in der Lage ist, die Grundlagen allen Wertens zu legen. Sie muss sich auseinandersetzen mit der Vielfalt von Lebensformen und Werturteilen. Was sie leisten kann, ist eine gewisse Kohärenz.

Also zeigen, dass bestimmte Urteile widersprüchlich sind. Zum Beispiel wäre es widersprüchlich, um diesen Fall jetzt mal aufzugreifen, zu sagen, dass jede Form von Eingriff in die weiblichen Genitalien eine Menschenrechtsverletzung ist, zum Beispiel die Klitoris-/Vorhautentfernung während bei Jungen es keine Menschenrechtsverletzung ist. Diese beiden Positionen sind miteinander nicht verträglich. Sie sind logisch unvereinbar.

Oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen: Die Philosophie kann sehr deutlich machen, dass die These, dass, wenn es denn religiöse, magische Komplexe gibt, dass diese dann von jeder Kritik und juridischen, also rechtlichen Kontrolle freigestellt werden müssen, unverträglich ist mit den normativen Grundlagen, wie sie zum Beispiel im Grundgesetz stehen, der Demokratie. Also da kann die Philosophie etwas leisten.

Brink: Können Sie denn, wie Sie ja sich selbst bezeichnet haben, als praktischer Philosoph, auch darauf, auf einen ganz eklatanten Widerspruch ja auch hinweisen, nämlich beim Thema Beschneidung, das Interesse des Einzelnen, also in diesem Fall einer Religionsgruppe und ihrer Rituale und der Fürsorgepflicht des Staates?

Nida-Rümelin: Also, Deutschland hat die Kinderschutzkonvention unterzeichnet. Wenn man sie wörtlich liest, heißt das, dass also alle Beschädigungen von Kindern untersagt sind. Und dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis. Nun ist es im Falle der Jungensbeschneidung, also Vorhautbeschneidung, umstritten, medizinisch, ob das tatsächlich eine Beschädigung ist.

Es gibt ja viele Länder, zum Beispiel die USA – das ist zwar sehr zurückgegangen Ende der 70er-Jahre sind 90 Prozent der Jungen dort beschnitten worden, unterdessen sind es unter 50 Prozent – aber natürlich kommen diese Zahlen nicht zustande durch rituelle, religiös motivierte Beschneidungen, sondern der historische Hintergrund in den USA, übrigens auch kein sehr angenehmer, ist, dass man die Masturbation unterbinden wollte mit dieser Maßnahme.

Aber immerhin, es ist eine allgemeine Praxis geworden, und sogar die WHO empfiehlt angesichts der Weitergabe bestimmter Erkrankungen, die Wahrscheinlichkeit von HIV-Infektionen, möglicherweise sogar Gebärmutterhalskrebs durch HP-Viren, empfiehlt sogar die Beschneidung sozusagen als prophylaktische Maßnahme.

Das heißt, in der Medizin ist es umstritten, ob es tatsächlich eine Beschädigung ist. Allerdings gibt es ein Umdenken, ein Umdenken in den USA ohnehin, aber auch sogar in Israel. Es gibt viele jüdische Eltern, die unterdessen zu einer schmerzfreien Praxis übergegangen sind. Brit Schalom zum achten Geburtstag. Auch in Israel gibt es eine heftige Debatte um diese Fragen. Also da ist etwas in Bewegung gekommen. Dieses Urteil fällt nicht vom Himmel, sondern dem ist etwas vorausgegangen.

Brink: Aber wie kommen wir denn aus diesem Dilemma raus?

Nida-Rümelin: Die Grundlage, da rauszukommen, ist, dass wir sehr genau die Regeln der Menschenrechte formulieren, präzise formulieren, nicht die Augen verschließen vor Widersprüchen. Und dann prüfen, ob bestimmte Praktiken, rituelle Praktiken, mit den Menschenrechten und mit der Rechtsordnung verträglich sind oder nicht. Im Falle der weiblichen Genitalverstümmelung sind wir uns einig, im Falle der Vorhautbeschneidung bei Jungens sind wir uns nicht einig. Und da bin ich auch der Auffassung, da ist der Gesetzgeber gefordert.

Brink: Also Sie würden dann dazu raten zu einem Gesetz, das, ja, es erlaubt oder verbietet? Was ist Ihre Position?

Nida-Rümelin: Ja, also die jetzige Situation ist ungut, weil sie für die Mediziner ja ein juristisches Risiko beinhaltet. Wahrscheinlich dazu führt, dass viele falsche Indikationen gestellt werden, als sei es notwendig in diesem Fall.

Ich könnte mir zum Beispiel als Kompromisslinie vorstellen, das wird meines Wissens in Schweden begangen, dass man die Beschneidung als solche, ähnlich wie auch Schönheitsoperationen bei Kindern, die zulässig sind auch ohne medizinische Indikation, mit Zustimmung der Eltern, zulässt, allerdings nicht, wenn sie mit zum Teil traumatischen Schmerzen verbunden sind.

Da gibt es Untersuchungen dazu, dass auch die Säuglinge, auch wenige Tage nach der Geburt, extreme Schmerzen empfinden. Und das wäre vielleicht die Kompromisslinie, dass man sagt, Schmerzzufügung, die möglicherweise auch psychische Spätfolgen hat, in diesem Umfang, das ist unzulässig, aber die Beschneidung als solche ist okay.

Brink: Professor Julian Nida-Rümelin von der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Schönen Dank für das Gespräch!

Nida-Rümelin: Dankeschön!


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