Nicolette Krebitz' neuer Film "Wild"

Die mit dem Wolf wohnt

Anna, gespielt von Lilith Stangenberg, nimmt einen Wolf auf - in ihrer Hochhauswohnung
Anna, gespielt von Lilith Stangenberg, nimmt einen Wolf auf - in ihrer Hochhauswohnung © Christian Hüller
Nicolette Krebitz und Lilith Stangenberg im Gespräch mit Susanne Burg · 09.04.2016
Anna ist jung und ängstlich. Dann begegnet sie einem Wolf, den sie bei sich in der Wohnung aufnimmt. Durch den Wolf lernt Anna, die Angst hinter sich zu lassen. Ein Gespräch über den Film "Wild" mit Regisseurin Nicolette Krebitz und Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg.
Susanne Burg: Der Wolf hat in der Literatur, in der Kunst eine lange Tradition. Bei Grimms Märchen zum Beispiel ist es eine sehr, sehr bedrohliche Figur. Nicolette Krebitz, in welcher Tradition sehen Sie die Wolfsfigur in dem Film, oder was verbinden Sie mit Wölfen?
Nicolette Krebitz: Mich fasziniert vor allem die Einigkeit zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen Seiten, also einerseits das Wilde, Triebhafte, Unberechenbare, und andererseits das loyale, verantwortungsvolle Rudelverhalten. Oder einmal das: Wie kann ein Wolf wild bleiben, der sich nachts in eine Stadt schleicht und bei McDonald's aus dem Mülleimer einen Cheeseburger holt? Wie kann der noch er selbst bleiben, der wilde Wolf, den wir kennen? Und ich glaube, das ist was, was ich mich auch als erwachsener Mensch ständig frage oder womit ich kämpfe, diese unterschiedlichen Seiten zusammenzubringen, um ein glückliches Leben zu führen.
Burg: Lilith Stangenberg, Ihre Figur, die trifft ja den Wolf in der Stadt, also in einem Park. Es ist ein Moment, wo sie Auge in Auge ihm gegenübersteht. Was passiert eigentlich in diesem Moment?

"Der Wolf rüttelt Anna wach"

Lilith Stangenberg: Ich habe immer das Gefühl, die Figur wird wie wachgerüttelt plötzlich. Bei einem Wolf oder so, wenn sich die Nackenhaare aufstellen, so was würde jetzt bei ihr passieren, wenn sie welche hätte, wenn man es sehen würde. Sie wird plötzlich in der Konfrontation mit dem Raubtier mit ganz anderen Gefühlen konfrontiert, die eigentlich in ihr wie verkümmert sind, wie abgestorben. Worte oder Selbstbehauptungen bedeuten ja nichts mehr, wenn du Auge in Auge mit einem Raubtier bist. Und das ist wie, als schmeckte sie ganz kurz, was kann Leben auch bedeuten, wie intensiv könnte es eigentlich alles sein. Für mich rüttelt er sie wach.
Burg: Frau Krebitz, die Figur Anja, die schraubt sich dann so rein in dieses Leben mit dem Wolf. Sie baut ihre Wohnung um, der Wolf kommt dann auch zu ihr. Wie sehr wollten Sie, dass die Perspektive des Zuschauers immer mehr die von Anja wird.
Krebitz: Ich wollte auf jeden Fall eine Geschichte erzählen, die nicht, wie in meine vorherigen Arbeiten, vielleicht Zustände beklagt oder auch aufzeigt, sondern ich wollte anstiften, auszubrechen oder sich davon zu befreien, Lust zu machen. Also, das ein Aussteigen auch ein Einsteigen sein kann. Und ich wollte probieren, dass man aus dem Film rauskommt und eigentlich Lust hat, was nachzumachen oder was selbst zu versuchen. Und das gelingt natürlich am besten durch Identifikation nicht unbedingt nur mit der Hauptperson, sondern mit einem Zustand oder mit einer Fügung von Dingen, mit dem Versprechen, dass es ein positives Erlebnis sein kann.
Burg: Was würden Sie sich vorstellen im besten Falle, wozu Sie den Zuschauer anstiften?
Krebitz: Seiner Lust zu folgen, wohin die auch immer geht, solange sie niemanden verletzt oder weh tut. Dass einem die Angst genommen wird durch den Film. Es ist ganz komisch: Sie verliert natürlich erst mal ein paar Statussymbole, die uns als Menschen immer erzählt werden, die so wichtig sind – eine schöne Einrichtung und am besten nicht auffallen und dafür auch viel arbeiten, dass man das alles haben kann, was man eben braucht. Und die Hauptfigur in dem Film erfährt, dass sie all das nicht braucht, um, ihr Glück zu finden, dass ihr Glück darin liegt, mit diesem Wolf zusammen zu sein. Und irgendwann muss sie ja auch einsehen, dass es vielleicht nicht der richtige Ort für den Wolf ist, diese Wohnung in dem Hochhaus, und verlässt es dann ja auch und lässt es hinter sich, diesen Teil ihres Lebens.
Burg: Es gibt auch eine Traumsequenz, in der es dann eine sehr sexuelle Komponente gibt. Inwieweit ist Freud auch ein Schlüssel zum Film.
Stangenberg: Ich glaube, dass, um ein Leben zu gestalten oder zu finden, was man selbst wirklich so haben will, genauso wie es ist, gehört natürlich auch die Sexualität und wie man sie erleben möchte. Und gerade als Frau finde ich es interessant, sich davon zu lösen, was man immer gesagt bekommt, was eine gute Frau ist, eine schöne Frau, eine Frau, die sexy ist und so weiter – und wir sind da schon sehr gefangen von. Damit haben wir uns beschäftigt infolge der Geschichte in unserem Film und was dieses Tier, das ja diese Wildheit in ihr herausfordert, was das vielleicht noch so alles mit ihr macht und wo das auch manchmal provoziert oder vielleicht schocken kann, weil es eben anders ist als das Bild, das man so einer schönen jungen Frau wie Lilith erst mal so zuteilen würde. Das gehört alles dazu, sich zu befreien von Ballast, der einem das Leben nicht schöner macht.
Burg: Lilith Stangenberg, wie sah für Sie denn die Arbeit aus, was eben Frau Krebitz beschrieben hat, eben auch diese Befreiung dann glaubhaft auf die Leinwand zu bringen?
Stangenberg: Erst mal war eine große Herausforderung – die Figur macht ja eine große Entwicklung, von der Anja am Anfang, die so ein bisschen einsam ist, ein bisschen traurig, ein bisschen tapfer, in so einer dunklen Welt irgendwie sich befindet, zu der Anja am Ende, die in einem ganz, ganz anderen Zustand ist, die befreit ist oder so. Und das war natürlich eine große Herausforderung, diese beiden Kräfte in mir zu finden und zu radikalisieren auf eine Art, sowohl die Schüchterne, Bescheidene, die in mir zu finden, war zum Beispiel ganz schwer, da mussten wir viel üben. Zum Beispiel haben wir viel Laufen geübt – wie läuft denn so jemand, wie läuft die durch den Park?

"Der wilde Part war viel leichter zu spielen"

Krebitz: Ist doch verrückt – jede andere Schauspielerin – der zweite Teil wäre viel schwieriger gewesen.
Stangenberg: Der wilde Part war viel leichter. Da hatte ich viel mehr Zugang zu als zu der ersten Anja. Und das war immer unsere große Aufgabe, dass man die glaubhaft bekommt, die Geschichte, dass es nicht eine tolle, wilde Fantasie ist, sondern wirklich eine glaubhafte Geschichte, ein glaubhafter Film.
Burg: Ein glaubhafter Film. Wie wichtig war es dann in diesem Zusammenhang, auch mit einem echten Wolf zu drehen?
Krebitz: Das war essenziell. Und dafür brauchten wir natürlich auch einen starken Partner, jemanden, der da Erfahrung hat, und den haben wir in Zoltán Horkay gefunden, einem ungarischen Tiertrainer. Und auch eine Schauspielerin wie Lilith, die eben bereit ist, sich da einzulassen, auch vor allen Dingen nicht nur bereit, sondern auch in der Lage ist. Lilith hat so sehr in ihre Rolle sich da reinbegeben, sodass sie auch eben in den Szenen wirklich davon ausgegangen ist, dass der Wolf ihr Liebhaber ist und nicht mehr ihr Feind, und hat das auch ausgestrahlt. Und dann hat der Wolf, der ja sehr stark auf Zeichen und Instinkte und Körpersprache reagiert, eben auch gespürt, dass da keine Schwäche zu finden ist bei dieser Person, dass er also keinen Ausgang finden wird, in die Freiheit zu kommen, weil das ist immer das, was der Wolf möchte. Der will frei sein. Und so konnte er anfangen, mit Lilith zu spielen.
Stangenberg: Es ging auch gar nicht anders, weil in dem Moment, wo ich mich unwohl gefühlt habe oder unsicher war oder an mir selbst gezweifelt hat, hat der das, ich weiß nicht, gerochen oder an meiner Körpersprache gelesen und mir angefangen zu misstrauen, und die Szene hat nicht mehr funktioniert. Deshalb bin ich auch drei Wochen vor Drehbeginn nach Ungarn gefahren, um mit dem zu üben – nebeneinander liegen oder sitzen oder laufen oder an der Leine führen, was für den Wolf alles überhaupt nicht leicht ist. Der ist ganz, ganz scheu und widerspenstig und hat Angst. Und die größte Aufgabe war eigentlich, dass er keine Angst vor mir hat.
Anna, gespielt von Lilith Stangenberg, nimmt einen Wolf auf - in ihrer Hochhauswohnung
Anna, gespielt von Lilith Stangenberg, nimmt einen Wolf auf - in ihrer Hochhauswohnung© Heimatfilm
Burg: Das, was im Film ja auch sich transportiert, ist auch was ganz Bedrohliches: Man sieht dann ihn die Zähne fletschen und die Riesenhauer. So, wie Sie es beschreiben, ist es ja eher so ein zurückhaltendes, ängstliches Tier.
Stangenberg: Ängstlich würde ich ihn nicht beschreiben. Sehr scheu.
Krebitz: Er möchte eigentlich nicht mit Menschen zusammen sein. Das kann man, glaube ich, sagen.
Burg: Lilith Stangenberg, Sie sind vor allem Theaterschauspielerin, gehören zum Ensemble der Berliner Volksbühne. Wie sehr mussten Sie sich umstellen, vor der Kamera zu stehen?
Stangenberg: Es ist tatsächlich wie ein anderer Beruf. Aber trotzdem kann ich sagen, dass ich von der Volksbühne, in den Theaterarbeiten eine große Selbstverschwendung kenne und gewohnt bin und schon gewohnt bin, über meine Grenzen hinauszugehen. Und das verlangte diese Figur auch von mir. Da musste ich natürlich lernen, dass vor der Kamera, da habe ich ja keine Bühne, da ist mein Gesicht die Bühne, und da muss sich alles abspielen.
Burg: Der Film hatte dann Premiere im Sundance im Januar. Es gab ein bisschen Diskussionen darum, warum dort Premiere, warum dann nicht in Berlin. Es ist relativ viel geschrieben worden dann von den amerikanischen Medien. Wie haben Sie diese Premiere empfunden?

Premiere mit Absicht in USA - und nicht in Deutschland

Krebitz: Ich bin sehr froh, dass wir im Sundance waren. Wir haben uns für ein Festival außerhalb Deutschlands entschieden, weil wir uns gewünscht haben, dass der Film besprochen wird und nicht ich und der Film. Dass es nicht um mich als Schauspielerin, die einen Film gemacht hat, die ganze Zeit geht. Und dass die Reaktion auf den Film aber so stark war, wie sie jetzt war, damit hatten wir auch nicht gerechnet. Wir haben auch ein bisschen unterschätzt, dass die Amerikaner natürlich zu dem Thema Natur und die Moderne noch mal ein extrastarkes Verhältnis haben. Somit sind sie erst mal von vornherein schon mal sehr angesprungen auf den Film und haben sich dann da aber anscheinend auch wiedergefunden. Und was mich so überrascht hat, war, dass sie sich auch vor allem überhaupt kein Problem haben, wie man an den von Männern geschriebenen Kritiken sehen konnte, sich den Film durch die Augen einer Hauptdarstellerin zu erleben. Die haben da überhaupt keine Unterschiede gemacht, sondern die haben einfach die Geschichte miterlebt. Und das, finde ich, ist ein großer Vorteil und hat mich sehr überrascht und war toll. Konnte man in den Texten lesen, oder?
Burg: Nun ist dann spannend, wie der Film von deutschen Kritikern besprochen wird. Die Regisseurin Nicolette Krebitz und die Schauspielerin Lilith Stangenberg. Ihr Film "Wild" kommt am Donnerstag in die Kinos. Vielen Dank fürs Gespräch!
Krebitz: Danke auch, tschüs!
Stangenberg: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema