Nicola Lagioia: "Eiskalter Süden"

Geschichte eines gierigen Familienclans

Der italienische Schriftsteller Nicola Lagioia, aufgenommen am 13.5.2016
Nicola Lagioia erhielt für "Eiskalter Süden" den Premio Strega, den wichtigsten Literaturpreis Italiens. © imago / Leemage
Von Maike Albath · 14.11.2016
Beklemmend und knallhart: "Eiskalter Süden" von Nicola Lagioia ist die Abrechnung mit einer Gesellschaft, in der die schiere Gier die Verhältnisse bestimmt. Der preisgekrönte Roman liefert ein Porträt Italiens von der Schärfe eines Röntgenbildes.
Vittorio Salvemini ist ein mächtiger Mann. Ein typischer Aufsteiger, ehrgeizig, intelligent und hartnäckig, der Anfang der 70er Jahre vom Land nach Bari kam, eine Baufirma gründete und mittlerweile zwischen China, Spanien und Apulien Großprojekte betreibt. Doch nun erreicht den Patriarchen eine grausame Nachricht: Seine Tochter Clara liegt mit zerschmettertem Körper vor einem Parkhaus. Selbstmord, heißt es. Die anziehende 35-Jährige, mit einem Ingenieur der Firma verheiratet, war für ihren mondänen Lebenswandel bekannt. Kaum jemand hatte sich ihrer Wirkung entziehen können, aber nur ihr Halbbruder Michele wusste, was Clara wirklich umtrieb.

Alles wird zu Geld gemacht

In dichten, beklemmenden Bildern entfaltet Nicola Lagioia in seinem vierten Roman "Eiskalter Süden", ausgezeichnet mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis Premio Strega, die Geschichte eines Familienclans und liefert zugleich ein Porträt Italiens von der Schärfe eines Röntgenbildes. Schiere Gier bestimmt die Verhältnisse. Ob die mediterrane Natur, die Meeresküste oder die Menschen, alles wird manipuliert, vergiftet, ausgeraubt, zu Geld gemacht.
Vittorio Salvemini operiert mit kühlem Pragmatismus; selbst Schicksalsschläge weiß er in Chancen umzumünzen. Seine Ehefrau Annamaria hält an Konventionen fest und geistert wie eine Untote durch die herrschaftliche Villa der Familie. Der älteste Sohn Ruggero, erfolgreicher Onkologe, kommt nur mithilfe einschlägiger Huren auf Touren und geht seinem Vater zur Hand. Die jüngste Tochter Gioia, ein selbstgefälliges Luxusgeschöpf, gewinnt aus dem Tod der beneideten Älteren emotionalen Profit. Einzig und allein Claras Verbündeter Michele, der sich als Journalist in Rom durchschlägt und als uneheliches Kind der Underdog der Familie war, macht sich daran, die untergründige Bedeutung des Unglücks zu dechiffrieren.

Scharfe Abrechnung mit der Vätergeneration

Es ist nicht nur die Mischung aus knallharter Gesellschaftsanalyse, Naturbeobachtungen, Tiermetaphorik und Psychologie, die aus "Kalter Süden" einen atemberaubenden Roman macht. Es ist vor allem die Form. Gleich zu Beginn taucht Clara auf, wie sie mitten in der Nacht komplett nackt und voller Blut die Landstraße entlang stolpert. Ein Lastkraftwagenfahrer rast auf sie zu. Hier bündelt sich bereits alles, was auf den kommenden 500 Seiten in immer neuen Anläufen umkreist wird. Mit einer ausgefeilten Kaleidoskop-Technik zersplittert Lagioia die Perspektiven seiner Protagonisten und liefert verschiedene Varianten ein und derselben Situation, so als sei sie von mehreren Filmkameras gleichzeitig eingefangen worden.
Nicola Lagioia, 1973 in Bari geboren, renommierter Rundfunkjournalist und Verfasser mehrerer Romane, prägt einen Hyper-Realismus und zeigt ähnlich wie Davide Longo oder Vincenzo Latronico, welchen Preis Italien für seinen Wandel von einer Agrargesellschaft zur Industrienation zahlte. Schärfer kann eine Abrechnung mit der Vätergeneration nicht ausfallen.

Nicola Lagioia: Eiskalter Süden
Aus dem Italienischen von Monika Lustig
Secession Verlag, Zürich 2016
525 Seiten, 28,00 Euro

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