Nichts am Hut mit "La Paloma"

Von Ulrike Werner · 18.01.2013
Tag und Nacht steuern die Kieler Lotsen riesige Containerschiffe durch den Nordostsee-Kanal. Einmal in der Woche treffen sie sich abends, um echte Shanties zu singen, so wie es früher an Bord üblich war. Und das Interesse des Publikums an den authentischen Seemannsliedern wächst.
Im Seemannsheim in Kiel-Holtenau drängen sich dreißig Lotsen. Weißhaarige, grauhaarige Herren, leger in Jeans und Pullover gekleidet. Sie singen hier jeden Montag, in der Nähe der Schleuse, wo der Nordostseekanal in die Kieler Förde mündet. Das ist ihr Revier, ihr Arbeitsplatz. Der Lotsengesangsverein Knurrhahn heißt nach dem einzigen Fisch, der einen Laut von sich gibt. Harald von Bosse, Kapitän im Ruhestand, ist stellvertretender Oberknurrhahn und stellt die Stuhlreihen für die Probe auf.

"Wir haben es uns ja zur Aufgabe gemacht, diese Lieder, diese Seasongs, diese Shanties, so original wie nur möglich wieder zu geben. Und zu erhalten. Wir sind also nicht ein Chor, der mit Fischgrätenmuster irgendwo rumsteht und La Paloma singt - nicht, da haben wir überhaupt nichts am Hut!"

Shanties sind Arbeitsgesänge. Auf den großen Segelschiffen gaben sie den Matrosen den gemeinsamen Takt vor. Knurrhahn Klaus Helms, weißhaarig, Bass, setzte als Schiffsjunge die Segel auf der Passat, einem legendären deutschen Viermaster.

"Die Shanties, die dabei gesungen wurden, waren sicherlich, vor allem bei den Vorsängern, Ausdruck dessen, wie wohl oder nicht wohl man sich an Bord fühlte. Wenn das Essen nicht schmeckte, oder der Kapitän zu viel rumgrölte, oder der Steuermann einem ständig hinterher saß, das drückte sich in den Vorgesängen der Vorsänger aus. Und dabei reagierte man sich ab."

Chorleiter Dr. Michael Pezenburg dirigiert schwungvoll und dynamisch. Der Doktor der Musikwissenschaft und Lehrer im Ruhestand hat 2006 die musikalische Leitung des Knurrhahns übernommen.

"Und ich hab da noch ein Liedgut kennengelernt, was früher außerhalb meines Horizontes war. Und ich hab ein Leben kennengelernt, ich hab also die maritime Welt kennengelernt"

Jeder Lotse in Kiel ist Kapitän auf großer Fahrt. Jeder Knurrhahn ist also viele Jahre lang auf den sieben Weltmeeren gefahren. Heute wird an Bord kaum noch gesungen, und wenn, dann Karaoke.

Im Jahr 1929 war ein strenger Eiswinter, Förde und Kanal waren zugefroren, der Schiffsverkehr ruhte. Die Lotsen warteten, tranken Bier und spielten Skat. Irgendwann begannen sie zu singen. Das gefiel ihnen so gut, dass sie den "Knurrhahn" gründeten. Wolfgang Brümmerstedt, Lotse und Kapitän im Ruhestand, begleitet die Shanties seit vierzig Jahren auf dem Akkordeon. Er sitzt schräg hinter Chorleiter Pezenburg und hat ihn genau im Blick.

"Grundsätzlich hat dieser Mann einen großen Umwandlungsprozess vollzogen. Und zwar, die Bedeutung in unserem Beruf hat er so langsam verstanden. Wir sind nicht nur Sänger, sondern wir sind alles Selbständige! Jeder Lotse ist ja selbständig. Daher muss er es auch jedem einzelnen Kollegen zugestehen, eine eigene Meinung zu haben. "

Pezenburg: "Gut, jetzt singen wir mal 'Alabama', weil wir da letztes Mal zum Schluss ein Problem hatten."
Lotse: "Wir nicht, Du!"
Pezenburg: "Ich weiß es nicht, ob ich da ein Zeichen zu undeutlich gegeben habe ..."

Auch bei der Auswahl der Lieder diskutieren die Knurrhähne mit. Ihr Repertoire umfasst etwa 100 Shanties, auf englisch, plattdeutsch, holländisch, sogar russisch. Diese mündlich überlieferten Lieder wurden von den Knurrhähnen der ersten Stunde aufgeschrieben und gedruckt. Die Knurrhähne singen alles auswendig, auch die vielen mehrstimmigen Sätze.

Pezenburg:" Ihr vergesst immer, dass es da tiefer anfängt. Ihr wollt immer den oberen Ton singen, nochmal Alabama den Vorspann, hersehen!"

"Ja, nach Gehör. Selten, dass einer Noten kennt. Es wird ihnen vorgesungen, dann singen sie es nach. Dann erinnert man sich an das Vorgesungene, dadurch prägt es sich schneller ein. Aber natürlich ist es teilweise regelrechte Schleifarbeit! - Ton für Ton, also die Töne alle einzubimsen quasi, und bis sie dann so richtig sitzen, das dauert auch manchmal länger. Deswegen hab ich auch schon so´ n Beinamen der 'Schleifer' im Chor!"

"Wer gern singt, dem bringt das auch Spaß! Es ist die Gemeinschaft, die da eine Rolle spielt. Man kennt das ja von der Seefahrt her, dass so ´ne Besatzung im Lauf der Zeit zusammenwächst - und ja, Arbeit schweißt zusammen, gemeinsam bestandene Gefahren auch."

Und schon ist die Probe zu Ende und die Herren eilen nach Hause. Früher sangen die Knurrhähne nur auf Fährschiffen, bei seemännischen Feiern und während der Kieler Woche. Doch ihr von Michael Pezenburg geschliffener Chorklang lockt nun ein größeres Publikum in die Konzerte. Seither singen die Lotsen auch in Kirchen. Ihre Chorkleidung ist dabei selbstverständlich standesgemäß: eine Kapitänsuniform aus blauem Tuch mit goldenen Knöpfen.

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