Nicht jeder Diktator muss zittern

Rezensiert von Katja Wilke · 22.04.2012
Wie groß waren die Hoffnungen vor einem Jahrzehnt: Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag war gegründet worden und es sollte endlich möglich werden, Völkerrechtsstraftaten wie Genozid oder Kriegsverbrechen effektiv zu verfolgen. Für Wolfgang Kaleck ist der runde Geburtstag der Institution ein Anlass, Bilanz zu ziehen.
Der Berliner Rechtsanwalt liefert einen spannenden Überblick: Zum einen über völkerrechtliche Strafverfahren - von den Nürnberger Prozessen bis hin zu den laufenden Fällen. Und zum anderen über ausgebliebenen Prozesse, über Völkerrechtsverbrechen, die nie vor einem Gericht zur Anklage gekommen sind.

Schlimmste Taten blieben ungesühnt, so sein Vorwurf, weil es eine der größten Schwächen des Völkerstrafrechts sei, dass es politisch selektiv und überwiegend gegen schwache, gefallene und besiegte Potentaten und Militärs angewandt werde.

"Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Es kann keine Rede davon sein, dass jeder Diktator und jeder Folterknecht der Erde vor den Strafverfolgern aus Den Haag und anderswo zittern müsste."

Wolfgang Kaleck engagiert sich als Generalsekretär des European Centre for Constitutional and Human Rights in Berlin, das vor fünf Jahren von einer Gruppe von Menschenrechtsanwälten gegründet wurde. Als Vertreter dieser gemeinnützigen Organisation hat er sich in den vergangenen Jahren durch plakative Aktionen einen Namen gemacht.

2006 zeigte er den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, den Ex-CIA-Chef George Tenet und hochrangige US-Militärs wegen Kriegsverbrechen und Folter in Abu Ghraib und Guantánamo bei der Bundesanwaltschaft an. Und vor einigen Wochen reichte er Strafanzeige gegen den Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé ein. Das Unternehmen soll für die Ermordung eines kolumbianischen Gewerkschafters zur Rechenschaft gezogen werden.

Ihn ärgern die vielen Ungereimtheiten im Völkerstrafrecht. So laufen in Den Haag bislang ausschließlich Verfahren gegen Menschenrechtsverletzer aus afrikanischen Ländern. Wann und wo Tribunale zur Verfolgung von völkerrechtswidrigen Taten eingerichtet werden – wie für Jugoslawien und Ruanda –, erscheint ihm willkürlich:

"Aus juristischer und menschenrechtlicher Perspektive bestehen wenig Zweifel, dass die überwiegende Anzahl der in den letzten zwei Dekaden vor den verschiedenen internationalen Tribunalen und nationalen Gerichten eingeleiteten Völkerstrafverfahren selten die Falschen traf, um es salopp zu sagen. Die Frage ist vielmehr, warum nur in diesen Fällen und nur gegen diese Verdächtigen Strafverfahren stattfinden, warum überhaupt nur so wenige verurteilt werden."

Wolfgang Kaleck stellt diese Frage nur rhetorisch, denn natürlich glaubt er die Antwort zu wissen. Über schwere Menschenrechtsverletzungen sei in nahezu allen historischen Momenten politisch entschieden worden. Warum zum Beispiel gab der UN-Sicherheitsrat im Falle Libyens im Februar 2011 dem Strafgerichtshof grünes Licht für Ermittlungen, während Anfang 2009 bei den massiven Kriegsverbrechen der Regierung von Sri Lanka gegen die tamilische Bevölkerung keine Resolution erging?

"Bestraft werden diejenigen, auf die sich alle einigen können. Das sind entweder niedrigrangige Tatverdächtige oder solche aus schwachen und besiegten Staaten. Überall dort, wo eigene politische, ökonomische oder militärische Interessen durch ein Strafverfahren in Gefahr geraten könnten, wird die Justiz entweder gar nicht erst tätig oder aber engagierte Richter und Staatsanwälte werden politisch ausgebremst."

Dem Gerichtshof könne man die starke Fokussierung auf Afrika nicht vorwerfen, schreibt Kaleck. Schließlich kann der auch nur dort tätig werden, wo Staaten sich freiwillig seiner Jurisdiktion unterworfen haben. Und das haben längst nicht alle. Neben Staaten wie China und Indien verweigern auch die USA beharrlich die Ratifizierung des Rom-Statuts, der Grundlage des Strafgerichtshofs.

Überhaupt die Vereinigten Staaten: Der Autor und Rechtsanwalt sieht das Land als großen Bremser im Kampf, die Idee der Menschenrechte weltweit voranzubringen. Wenn selbst ein zivilisiertes mächtiges westliches Land foltert und sich von den Richtern in Den Haag nichts sagen lassen will – wie solle man dann noch von anderen Staaten Einsicht verlangen?

Leider gehören die USA-kritischen Passagen zu den schwächsten in seinem Buch, denn hier teilt er die Welt programmatisch in schwarz und weiß ein:

"Wenn Präsident Obama die, den wenigen bekannten Fakten nach zu urteilen, extralegale Tötung Osama Bin Ladens zunächst anordnet und dann mit den Worten "Justice has been done" öffentlich kommentiert, bedeutet dies einen Rückfall hinter die Zeiten von Nürnberg. Denn damals wurden weder führende Nazis gefoltert, auch nicht während des noch laufenden Kriegs, noch wurden die später gefassten Hauptverantwortlichen für Millionen von Morden summarisch hingerichtet."

Uneingeschränkt lobenswert ist es dagegen, dass er auf das oft vergessene und verdrängte Schicksal von Frauen in Krisen- und Kriegsgebieten aufmerksam macht. In dieser Frage hätten sich die internationalen Strafgerichte für Ruanda und Jugoslawien bewährt. Das Ruanda-Tribunal habe entschieden, Vergewaltigungen als Instrument des Genozids anzusehen. Und durch das Jugoslawien-Tribunal sei klargestellt worden, dass Vergewaltigung eine Form von Folter darstelle:

"Damit war ein weiter Weg zurückgelegt, von der Rechtsauffassung der Vergewaltigung als Angriff auf das Eigentum des Mannes oder später auf die Ehre der Frau bis zur heutigen Ansicht der Vergewaltigung als schwerwiegendster Form von Gewalt, der Folter."

Es gibt also Fortschritte bei der Etablierung der Menschenrechte. Auch wenn sich Wolfgang Kaleck in seiner Analyse hauptsächlich auf die Rückschläge konzentriert, so gibt er dem Leser doch die Zuversicht, dass es unterm Strich vorangeht.

Wolfgang Kaleck: Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht
Verlag Klaus Wagenbach Berlin, März 2012
Buchcover "Mit zweierlei Maß" von Wolfgang Kaleck
Buchcover "Mit zweierlei Maß" von Wolfgang Kaleck© Verlag Klaus Wagenbach