"Nicht genügend Hygienefachleute in den deutschen Krankenhäusern"

Wolf-Dietrich Trenner im Gespräch mit Dietrich Kassel · 22.10.2012
Bauliche Mängel, fehlendes Bewusstsein für Hygiene und Spardruck bei der Reinigung nennt der Patientenvertreter Wolf-Dietrich Trenner als Gründe für vermeidbare Todesfälle in Krankenhäusern. Den Tod eines Frühgeborenen in der Berliner Charité will er jedoch nicht ungeprüft dem Personal anlasten.
Dieter Kassel: Am vergangenen Samstag, also vorgestern, gab die Berliner Charité bekannt, dass ein Frühgeborenes in der Obhut des Krankenhauses gestorben ist aufgrund einer Infektion mit sogenannten Serratia-Bakterien. Sieben weitere Babys seien ebenfalls infiziert, ihr Zustand sei aber stabil, heißt es. Das ist ein trauriger Anlass für ein Gespräch über ein Thema, das eigentlich schon seit Jahren omnipräsent ist: die Hygiene in deutschen Krankenhäusern und die daraus resultierenden Probleme.

Es gibt viele Zahlen dazu, ich nenne mal eine, die relativ genau ist, weil sie vom Robert-Koch-Institut stammt, einem öffentlichen Institut, dem man eigentlich keinen Populismus unterstellen kann, dieses Institut geht davon aus, dass es jedes Jahr in Krankenhäusern 225.000 Wundinfektionen nach Operationen gibt. Die Zahlen darüber, wie viele Menschen nach Infektionen, die sie in Krankenhäusern bekommen haben, sterben in Deutschland, gehen zwar ein bisschen auseinander – das sind auch Schätzungen, darüber werden wir gleich reden, warum das nur Schätzungen sind –, aber die meisten gehen davon aus, dass es sich um eine fünfstellige Zahl handelt. Warum ist das so, warum ist das vor allen Dingen jetzt noch so, wo dieses Thema doch schon seit Jahren durchaus auch öffentlich diskutiert wird?

Darüber wollen wir jetzt mit Wolf-Dietrich Trenner sprechen, er ist jetzt aktiv als Patientenvertreter am Institut namens AQUA, er war aber auch eine ganze Weile lang der Sprecher der Patientenvertretung im sogenannten gemeinsamen Bundesausschuss. Dieser gemeinsame Bundesausschuss ist ein Ausschuss, in dem sich die Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen von Ärzten und Krankenhäusern eben zusammen mit Patientenvertretern treffen, wobei die Patientenvertreter nur beraten und diskutieren dürfen und nicht mit abstimmen. Herr Trenner ist jetzt zu uns gekommen, schönen guten Tag erst mal, Herr Trenner!

Wolf-Dietrich Trenner: Guten Tag!

Kassel: So schrecklich das ist mit diesem gestorbenen Frühgeborenen in der Charité, als Sie das vermutlich auch irgendwann am Samstag im Radio gehört oder im Internet gelesen haben, was haben Sie sich da gedacht?

Trenner: Na, das ist für mich ein altes Thema, es ist nur erneut hochgekommen. Das schließt sich nahtlos an an die Probleme, die es in Mainz gab, die es in Bremen gab und die es eigentlich auf jeder neonatologischen Station in Deutschland gibt. Wir haben wesentlich zu viele neonatologische Stationen des Level eins, also viel zu viele Ärzte glauben, dass sie diese Probleme im den Griff kriegen könnten, und behandeln solche Frühgeborenen, und wir haben es hier in Berlin mit einem Problem zu tun, was auf der einen Seite typisch ist für Neonaten – so früh geborene Kinder sind besonders empfindlich; wenn die sich einen Keim auffangen, wirkt der eben oft tödlich. Zum anderen haben wir es mit einem Klima zu tun, insgesamt, das nicht besonders hygienefreundlich ist.

Kassel: Aber wie kann es denn sein, dass gerade auf einer Frühgeborenen-Station, wo man ja weiß, auch unter günstigsten Umständen besteht immer die Gefahr, dass so ein Kind stirbt, es ist also besonders empfindlich, dass gerade da offenbar auch gewisse Hygienevorschriften nicht eingehalten werden?

Trenner: Na ja, wir haben verschiedene Problemkreise dort. Zum einen, meistens ist der Bau so eines Hauses in Zeiten erfolgt und von Leuten geplant worden, die keine genügenden Kenntnisse haben über die Arbeitsabläufe, die auf solchen Stationen erforderlich sind. Meistens sind also die Wege zwischen den verschiedenen Frühgeborenen nicht getrennt genug, meistens sind die Wege von Station zu Station nicht getrennt genug, sodass sich nicht auf dem Weg immer anbietet, alle Hygienemaßnahmen auch durchzuführen. Das ist ein Problem, also baulich-strukturelle Maßnahmen.

Ein anderes Problem ist natürlich, dass Sie, was das Personal angeht – wir wissen wenig über die Strukturen im Krankenhaus, aber was wir wissen, ist, dass es eigentlich überall zu wenig Personal gibt. Also ist zu vermuten, dass der Arbeitsdruck, die Menge der zu erledigenden Arbeit dazu führt, dass die Arbeit eben relativ schnell, relativ hastig erledigt wird und von daher vielleicht nicht genügend Sorgfalt in jedem einzelnen Fall dann angewendet wird, und ein Fall reicht eben bereits aus, um so einen Keim dann zu verbreiten.

Und als drittes Problem haben wir natürlich die permanente Beratung durch Unternehmensberatungen, die sogenannten Heuschrecken, die jeden Geschäftsführer permanent beraten, wie er Kostenstellen einrichten kann, wie er die Arbeit weiter aufspalten kann, wie er möglichst viele Bereiche outsourcen kann. Mittlerweile haben wir keine Putzfrau auf den Stationen mehr, sondern ein Facility Management, früher war eine Putzfrau zuständig für eine Station und hat sie auch sauber gemacht, sauber im ganz hausfraulichen Sinne. Heute haben wir ein Facility Management, und verantwortlich ist nachher keiner mehr, jedenfalls ist keiner mehr erreichbar.

Kassel: Dann ist es aber gerade bei diesem Outsourcing im Bezug auf die Reinigung, also Facility Management, dass es ja feste Pläne gibt, und solche Pläne sehen dann nicht selten vor, dass innerhalb von fünf Minuten ein Krankenzimmer gereinigt werden muss mit zwei bis drei Betten. Da müssten doch Experten eigentlich wissen, dass das nach gängigen Hygienestandards eigentlich nicht zu machen ist.

Trenner: Na ja, wir wissen relativ viel und die Experten wissen relativ viel, aber nicht jeder weiß relativ viel. Den Geschäftsführer interessiert nur, was kostet die Reinigung des Krankenhauses insgesamt. Da geht es um Millionenbeträge, da geht es gar nicht um die einzelne Station, die einzelnen Minutenzeiten sind denen völlig unbekannt. Auch die Löhne sind denen hoffentlich völlig unbekannt, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass das akzeptabel wäre sonst. Dann ist uns wenig bekannt über die Qualifikation des Personals. Ist das Personal, das zum Beispiel für die Reinigung zuständig ist, auch ausgebildet für Hygienemaßnahmen? Dann haben wir auf den Stationen vielleicht Feuerübungen, aber wir haben keine Übungen – jedenfalls nicht genügend –, was die Hygiene angeht. Es wird ungenügend nachgeschaut, ob die Maßnahmen auch greifen.

Ich weiß nicht, ob Sie dass im Fernsehen mal gesehen haben, es gibt ja hervorragende Möglichkeiten, die Keimverteilung sichtbar zu machen. Sie färben bestimmte Substanzen ein, und unter Schwarzlicht können Sie dann in relativ kurzer Zeit sehen, wie viele Betten, wie viele Instrumente, wie viel Hände, wie viel Nasen, wie viel Münder infiziert worden sind, in kurzer Zeit kontaminiert worden sind. Das wird nicht häufig genug gemacht, sodass für das Problem wahrscheinlich nicht genügend Bewusstsein da ist.

Und dann haben wir es im Krankenhaus mit Kommunikationsproblemen zu tun, immer wieder. Es ist ja nicht so, dass nur die Internisten mit den Chirurgen sich nicht gut unterhalten können, weil ihre Fachgebiete sich – jedes hält sich ja für so exklusiv, dass es meint, die Kommunikation vernachlässigen zu dürfen.

Kassel: Heißt das, auch wenn ein Krankenhaus – was ja durchaus nicht unüblich ist heutzutage – eine Art Hygienebeauftragten hat, der ja nicht selten eine Art Facharzt für Hygiene ist, und nicht irgendjemand, dass der zum Teil nicht ernst genommen wird im Kollegenkreis?

Trenner: Also erstens haben wir natürlich nicht genügend Hygienefachleute in den deutschen Krankenhäusern. Wir haben 2000 Krankenhäuser, aber wenn meine Informationen stimmen, vielleicht 80 oder 90 Hygieniker. Das würde nicht reichen, aber die Charité hat so was natürlich, und als nationales Referenzzentrum für Hygiene ist die Charité da hervorragend ausgerüstet. Aber wir haben es in der ärztlichen Szene auch damit zu tun, dass Hygieniker häufig Leute werden, die eben keinen direkten Patientenkontakt haben, denen also auch von den Praktikern des Patientenkontaktes häufig mit dem Vorurteil begegnet wird, das sind Theoretiker, die haben ja keine Ahnung, die sollen uns in Ruhe lassen. Und in dieser Atmosphäre des mangelnden Bewusstseins, aus dem heraus sich ja auch Hygieniker schon in den Wahnsinn und dann umgebracht haben, an dieser Atmosphäre hat sich nicht so fürchterlich viel verändert.

Kassel: Nun gibt es Hygieneprobleme, die nur mit einem gewissen Aufwand, auch mit Kosten zu lösen sind, man hört aber immer wieder von Fachleuten, auch in der Berichterstattung, das Problem ließe sich zumindest schon beschränken, wenn sich jeder, auch jeder Arzt, oft genug die Hände wäscht. Das muss man, glaube ich, ernst nehmen, weil das schon Experten sind, die da anprangern. Aber wie kann es denn sein, dass jemand, der einen Eid geschworen hat, irgendwann, am Anfang seiner Ausbildung, er wolle alles ihm Mögliche tun, um Menschen gesund zu machen und ihr Leben zu retten, findet, Händewaschen ist ihm nicht mehr möglich?

Trenner: Na ja, ich glaube nicht, dass Hände deshalb nicht gewaschen werden, weil jemand sagt, ich will mir die Hände nicht waschen, sondern ich glaube, dass das in der Routine des Ablaufes dann nicht geschieht oder nicht häufig genug geschieht. Mit Händewaschen allein ist es ja auch nicht getan, es muss schon noch ein bisschen mehr sein. Für Sie ist so eine Situation etwas Besonderes, wenn Sie eine Verletzung haben, wenn Sie in der Folge eines Krankenhausaufenthaltes eine Wunde versorgen, dann waschen Sie sich besonders häufig die Hände, dann desinfizieren Sie sich die Hände auch, wenn Sie solche Versorgungen machen. Im Krankenhaus sind das keine besonderen Situationen, sondern es kommt täglich 50- oder 100-mal vor, und dann fehlt es an dem Bewusstsein für den Einzelfall.

Und was fehlt, ist natürlich diese berühmte Fehlerkultur, die immer angemahnt wird. Das heißt, wenn jemandem auffällt, das jemand etwas nicht macht, was er machen sollte, wird das nicht sofort angesprochen. Das ist ja ein großer Unterschied zwischen den medizinischen Systemen zum Beispiel in Schweden und in Deutschland: Während in Schweden ein sehr kollegiales System vorherrscht, also mit wenig Hierarchiestufen, und sehr viel kommuniziert wird und vor allen Dingen leitliniengerecht behandelt wird, ist das in Deutschland noch ein fürchterlich weiter Weg. Wir haben ein eher obrigkeitsstaatliches Verhältnis im Krankenhaus, alles läuft auf Chefärzte zu, und in diesen Hierarchien traut sich nicht jeder, jeden bemerkten Fehler auch sofort zu benennen. Und dann findet nach den Maßnahmen eben auch kein Evaluation statt. Also man setzt sich nicht zusammen und sagt, was haben wir gerade gemacht, was daran war gut, was daran war fehlerhaft, was können wir beim nächsten Mal besser machen. Es fehlt auch immer noch das Bewusstsein, dass es nichts gibt, was man nicht noch besser machen könnte. Viele glauben tatsächlich schon, den Exzellenzstatus erreicht zu haben und sich darauf ausruhen zu können.

Kassel: Wir reden gerade im Deutschlandradio Kultur nach dem Tod eines Frühgeborenen in der Berliner Charité über die Hygieneprobleme an deutschen Kliniken, und wir reden darüber mit Wolf-Dietrich Trenner, der Sprecher der Patientenvertreter im sogenannten gemeinsamen Bundesausschuss war, nicht nur da, auch länger, aber auch im April, als es ein ganz bestimmtes Treffen gab, bei dem es dann zu einem Eklat kam. In aller Kürze, worum ging es, und was ist da schiefgegangen damals?

Trenner: Vor zwei Jahren hat die Patientenvertretung beantragt, ein Qualitätssicherungsverfahren aufzulegen, sektorenübergreifend gegen die Hygieneprobleme oder zu den Hygieneproblemen im deutschen Gesundheitswesen, sowohl in Krankenhäusern als auch in den Arztpraxen. Wir haben den Antrag gestellt, und dann folgt normalerweise eine jahrelange Beratung, bis so ein Antrag dann beschlussreif im Plenum des gemeinsamen Bundesausschusses steht, und in diesem Plenum wird normalerweise alles öffentlich behandelt, mit Ausnahme von Vertragsangelegenheiten oder Personalangelegenheiten, bei denen Vertraulichkeit erforderlich ist. Der gemeinsame Bundesausschuss, also die Versammlung der wirtschaftlichen Interessen der Gesundheitssystembeteiligten, die dort Stimmrecht haben, gefällt sich aber darin, weiterhin hinter verschlossenen Türen zu tagen, und so hat die Deutsche Krankenhausgesellschaft beantragt, dieses Thema im nicht öffentlichen Teil der Sitzung zu behandeln.

Das hat uns Patientenvertreter angesichts von immerhin einer fünfstelligen Zahl von Toten – also die Schätzungen gehen ja weit auseinander, von 7500 vermeidbaren Todesfällen, wie die deutsche Krankenhausgesellschaft angibt, bis hin zu 80.000 Todesfällen, die man in manchen Presseveröffentlichungen sieht –, wir waren der Meinung, dass so ein Thema auf jeden Fall öffentlich behandelt werden muss, auch in Gegenwart von Presse, Funk und Fernsehen, weil das die gesamte Bevölkerung angeht, und der gemeinsame Bundesausschuss als Systemverantwortlicher sozusagen rechenschaftspflichtig ist. Aber es hat der Krankenhausgesellschaft gefallen, das wieder einmal in den nichtöffentlichen Teil zu vertagen, und das war dann für uns erstmalig der Grund, für alle Patientenvertreter, den Saal zu verlassen und zu sagen, wenn ihr das nicht öffentlich machen wollt, dann auch bitte nicht mit unserer Legitimation.

Kassel: Zum Schluss – das ist jetzt ein schrecklicher Fall, was in der Charité passiert ist, es gibt noch sieben weitere Babys, die in Gefahr sind, wir hoffen natürlich, dass denen nichts passiert … aber egal, was passiert, wir reden heute darüber, morgen, vielleicht noch nächste Woche, irgendwann ist es raus aus den Schlagzeilen. Wird sich denn irgendwas ändern?

Trenner: Das hoffe ich stark. Also man muss sicherlich sehen, dass Frühgeborene immer in besonderer Gefahr sind. Ich bin auch weit davon entfernt, den Verantwortlichen in der Charité persönliche Vorwürfe zu machen. Ich glaube, das wäre völlig unangebracht, solang man nicht wirklich weiß, woran es lag. Aber grundsätzlich müssen sich in Deutschland die Krankenhausmediziner klar darüber werden, dass Hygiene ein integraler Bestandteil ihrer Arbeit sein muss und nicht irgendein lästiges Nebenher oder ein Gegenpol, gegen den man sich wehren muss. Hygiene ist aus meiner Sicht ein Teil des Qualitätsmanagements eines Krankenhauses. Es geht nicht darum, möglichst bunte Zertifikate an die Pforte zu hängen, sondern es geht darum, im Krankenhaus alles zu tun, was man weiß.

Kassel: Die Hygieneprobleme in deutschen Krankenhäusern aus Sicht eines Patientenvertreters. Wolf-Dietrich Trenner, vielen Dank, dass Sie da waren!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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