Nicht "an den Rollstuhl gefesselt"

Rebecca Maskos im Gespräch mit Katrin Heise · 20.08.2012
Noch sind wir von der Inklusion, also der vollständigen Integration behinderter Menschen, in Deutschland weit entfernt - sagt Rebecca Maskos von der Website leidmedien.de. Mit ihrem Team will sie gegen Floskeln kämpfen und das Reden über Behinderungen selbstverständlicher machen.
Katrin Heise: Menschen mit Behinderung werden oft schon allein durch Worte auf ihre Behinderung reduziert: "an den Rollstuhl gefesselt" lässt beispielsweise außer Acht, dass der Rollstuhl ja auch mobil macht. Sie sind Opfer ihrer Umstände oder werden zu Helden des Alltags stilisiert. Selten interessiert, was der Mensch tatsächlich zu sagen hat. Die Macher der Internetseite leidmedien.de wissen, dass solche Formulierungen oft aus Unachtsamkeit oder Unsicherheit gewählt werden, und wollen deshalb zur Berichterstattung über Menschen mit Behinderung auffordern und Anregungen geben. Und ich begrüße jetzt die Journalistin Rebecca Maskos, sie ist Projektleiterin bei leidmedien.de. Schönen guten Tag, Frau Maskos!

Rebecca Maskos: Hallo!

Heise: Sie wenden sich an mich, an uns Journalisten, denn, na klar, wir prägen ja das Bild, das die Gesellschaft von Menschen mit Behinderung hat. Sie fordern auf: Berichtet, habt keine Scheu vor uns! Wer sind Sie, die Initiatoren von leidmedien.de?

Maskos: Ja, das ist der Verein Sozialhelden. Das ist ein Berliner Verein, der seit einigen Jahren soziale Projekte macht, viel auch dafür das Internet nutzt, soziale Netzwerke, und die sich in den letzten Jahren verstärkt dem Thema Behinderung zugewandt haben. Die haben zum Beispiel eine interaktive Plattform für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer entwickelt, die Wheelmap. Das ist eine Plattform, wo man Orte bewerten kann, sind die rollstuhlgerecht oder nicht, und auch nachschlagen kann, wo ist denn das nächste rollstuhlgerechte Café zum Beispiel. Diese Idee kam unter anderem von Raul Krauthausen, auch einer der Gründer der Sozialhelden.

Der ist selber Rollstuhlfahrer, und dem ist aufgefallen, dass in der Berichterstattung über Wheelmap oft nur er und seine Behinderung im Vordergrund standen. Also, das Projekt rangierte dann oft eher an zweiter Stelle. Und das hat dann so Auswüchse gehabt wie, dass dann so Überschriften kamen wie "Klein, aber oho" – also, er ist kleinwüchsig –, und das sind so Sachen, wo man denkt, also, hier wird einfach das Anliegen dann auch gar nicht mehr ernst genommen. Und er hat mich dann gefragt zusammen mit einer Kollegin, mit Lilian Masuhr, die auch Journalistin ist, ob wir die Texte für leidmedien.de schreiben wollen. Und das habe ich gerne gemacht, weil, ja, mich das Thema auch schon seit vielen Jahren beschäftigt.

Heise: Sie selber sitzen auch im Rollstuhl, aber es sind Leute, die mit oder ohne Behinderung mitarbeiten bei leidmedien.de.

Maskos: Ja, also, ich sitze auch im Rollstuhl, ich habe dieselbe Behinderung wie Raul Krauthausen, wir haben beide die sogenannte Glasknochenkrankheit. Das heißt, auch ich bin kleinwüchsig und sitze im Rollstuhl. Wir haben zwei Kollegen, die keine Behinderung haben, das ist der Andi Weiland und Lilian Masuhr. Und die kommen auch beide aus dem journalistischen Bereich, ich bin auch schon länger Journalistin und Raul ist in vielfältiger Weise in den Medien aktiv, als Blogger zum Beispiel.

Heise: Also sehr aktive Leute auf jeden Fall, was den Journalismus angeht, und die natürlich genau die Fallstricke auch kennen. Es geht da um konkrete Anregungen, um Formulierungen, also, damit gewissenhafter umzugehen. Sie haben zum Beispiel schon genannt, warum der Raul Krauthausen überhaupt auch auf die Idee gekommen ist, eben beobachtend die Berichterstattung, immer ihn in der Vordergrund stellend. Sie haben eine Überschrift genannt, ich habe eine andere gelesen: "Rollstuhl-Aktivist Krauthausen". Wobei ich da dann so gedacht habe, gut, das ist ja auch sein Engagement, was mit so einem Wort zum Beispiel beschrieben werden soll, sein Kampf um etwas. Oder reduziert ihn das?

Maskos: Ja, vielleicht kommt das so ein bisschen auf den Kontext an, in dem das verwendet wird. Aber … Also, ich denke, der Teil Aktivist trifft es schon, aber Rollstuhl-Aktivist, das klingt so ein bisschen wie: der Rollstuhl zuerst, also so nach dem Motto, dass er irgendwie hauptsächlich sein Rollstuhl ist. Und das finde ich schon letzten Endes eine Reduzierung, also eine komische Verkürzung. Also, ich weiß auch nicht genau, was ich mir unter einem Rollstuhlaktivisten vorstellen soll, also …

Heise: … wenn man jetzt das Wort Fahrrad-Aktivist zum Beispiel nehmen würde, das wäre jemand, der für bessere Fahrradwege oder so kämpft, so würde ich es verstehen. Und da respektive, da kommen wir ziemlich schnell an den Punkt, dass man, wenn es um Behinderung geht, auf der einen Seite versucht, aufmerksamer zu sein, auf der anderen Seite aber auch doch wieder zu Floskeln greift. Komisch eigentlich, die Verbindung: aufmerksamer, vorsichtiger sein zu wollen und dann gleich zu so Floskeln greifen. Wie kommt das zustande?

Maskos: Ja, also, ich glaube, dass mittlerweile sich ein Bewusstsein etabliert hat, dass man bei allem, was sich um Behinderung dreht, irgendwie vorsichtig sein muss. Das hat auch manchmal zur Folge, dass es eine seltsame Über-Political-Correctness gibt im Sinne von, dass man sich überhaupt nicht mehr traut, das Wort Behinderung auszusprechen, was ich und auch die Sozialhelden übertrieben finden, weil: Behinderung ist eigentlich ein ganz adäquates Wort, was auch sozusagen die soziale Komponente von Beeinträchtigung mit ausdrückt. Also, man kann das ja auch verwenden als "Ich werde von, zum Beispiel, Barrieren in der Umwelt behindert". Also, das heißt, manchmal schlägt es in so ein Extrem um.

Aber im Grunde beobachte ich, dass es trotzdem immer noch eine große Unsicherheit darüber gibt und keine Selbstverständlichkeit auch in der Art, wie über Behinderung gesprochen wird. Und ich glaube, das hängt unter anderem damit zusammen, dass einfach immer noch viel Behinderung als das andere markiert wird, als das Besondere, als das Abweichende. Und das, vermute ich, hängt auch damit zusammen, dass einfach dieser Imperativ, man soll normal sein, man soll einen normierten Körper haben, der funktioniert, der ist immer noch sehr stark. Und ich glaube, wenn dann Menschen sich Geschichten, Beiträge angucken, wo zum Beispiel auch sensationalistisch eine Behinderung herausgestellt wird als etwas Abweichendes, als etwas ganz Schlimmes, Dramatisches, dann kann man sich zurücklehnen und sagen oh, ein Glück, ich bin ganz normal!

Letzten Endes gibt es diese Funktion schon lange. Zum Beispiel die Freak Shows oder Kuriositätenkabinette haben genau diese Funktion gehabt, indem sie gezeigt haben: Aha, das sind die Anormalen sozusagen.

Heise: Und das so auf die unserige Zeit, auf die heutige Zeit übertragen. Rebecca Maskos von leidmedien.de ist unser Gast hier im "Radiofeuilleton", es geht um die Berichterstattung über Menschen mit Behinderung. Frau Maskos, auf Ihrer Seite habe ich gelesen so eine Aufforderung: Sprecht mit uns, nicht mit unseren Eltern, nicht mit unseren Betreuern! Ist das tatsächlich noch notwendig, kommt das tatsächlich häufig vor, dass nicht die Behinderten selbst befragt werden, sondern dann die Drumherumstehenden?

Maskos: Ja, das kommt immer noch sehr häufig vor. Also, das ist eine Sache, die viele Menschen mit Behinderung sowieso in ihrem Alltag erleben, dass oft nur mit der Begleitperson gesprochen wird und nicht nur mit der behinderten Person selbst. Und ich sehe das auch immer noch in Berichten und Artikeln über Behinderung.

Also, gerade an dem Tag, an dem wir online gegangen sind, da hat der "Münchner Merkur" einen kleinen Beitrag gebracht über einen gehörlosen Fußballer. Sie hat aber nicht diesen Fußballer interviewt, sondern den Bruder. Und der hat dann die ganze Zeit erzählt über seinen gehörlosen Bruder. Und dann ging es darum, wie toll er sein schweres Schicksal – das stand da auch so wortwörtlich drin – bewältigt, und dann wurde gleichzeitig eigentlich klar: Na ja, was der Unterschied ist, ist die Sprache, ansonsten führt er ein ganz normales Leben. Aber diese Normalität wurde als etwas Heldenhaftes, als etwas ganz Großes stilisiert.

Heise: Das heißt, würden Sie sagen, wir übertreiben jetzt manchmal in die andere Richtung gehend? Also, jetzt werden Menschen, die mit ihrer Behinderung, mit ihrer Krankheit leben, zu Helden gemacht?

Maskos: Ja, auf jeden Fall. Also, wir haben beobachtet, dass immer beides oder oft beides drin steckt. Also, es gibt ganz oft dieses Stereotyp des Opfers, also: Behinderung ist ein schweres Schicksal, man hat körperliche Defizite, die einen davon abhalten, teilzuhaben, ein normales Leben zu haben, es ist alles schlimm, nur Leiden und so weiter. Und dann gibt es aber dieses Bild von jemandem, der ein wahnsinnig heldenhafter Mensch sein muss, weil er ja ein ganz normales Leben führt. Und da werden dann teilweise völlig normale Alltagstätigkeiten beschrieben wie Einkaufengehen oder jemand hat eine ganz normale Arbeit oder eine Beziehung mit Partnerschaft. Und das wird dann sozusagen als besondere Leistung herausgestellt.

Und das irritiert viele Leute mit Behinderung, weil die sagen: Ja, Moment, was glaubt ihr denn, wie unser Leben ist? Das ist ganz normal, wir haben genau dieselben Alltagsprobleme wie ihr, nur dass sich unsere Lebensumstände ein bisschen unterscheiden! Das ist der Unterschied. Also, das heißt, so etwas dazwischen, einen Raum für Zwischentöne gibt es eigentlich kaum.

Heise: Wo ich allerdings jetzt wirklich zweimal hingucken musste, weil ich dachte, das ist doch wirklich mal eine positive Sache, sind die Plakate oder auch Fernseh-Trailer zu Olympia gewesen. Die waren immer in dem Sinne gestaltet: Wir haben ein Ziel. Und dann waren unterschiedlichste Sportler, mit, ohne Behinderung, alle gleich abgebildet. Da stand der Sport im Vordergrund. Ist Ihnen das auch aufgefallen als ein positives Beispiel?

Maskos: Ja, von dieser Kampagne waren wir auch alle sehr angetan, weil wir dachten, na, das ist tatsächlich mal was, was man inklusiv nennen kann! Weil, da steht nicht sozusagen die Abweichung im Mittelpunkt, da gibt es kein schweres Schicksal und kein Heldentum, sondern es gibt einfach ein gemeinsames Ziel, …

Heise: … das Ziel …

Maskos: … wie Sie sagen. Ja, und so was wünschen wir uns eigentlich. Uns geht es nicht darum, sozusagen immer nur auf den Journalisten oder auf den Medien rumzuhauen sozusagen. Wir haben auch viele positive Beispiele entdeckt und wir möchten unsere Seite auch nicht als Manifest verstanden wissen, als etwas, wo wir sozusagen die Deutungshoheit über Sprache einnehmen, sondern als Vorschläge und als eine Form von Sensibilisierung.

Heise: Aber da geben Sie eben tatsächlich auch Tipps. Und beispielsweise versuchen Sie ja wirklich, so ein bisschen Fallstricke aufzuzeigen. Sie stören sich an Floskeln. Welche sollte man sich denn tatsächlich sparen, wie macht man es besser?

Maskos: Ja, also, unser Lieblingsklassiker ist ja "an den Rollstuhl gefesselt", weil das einfach irgendwie auch völlig absurd ist. Also, ein Rollstuhl fesselt ja nicht oder hindert einen ja nicht an der Teilhabe, sondern im Gegenteil, er macht mobil, ja. Wir finden auch diesen Klassiker oder beide Klassiker, "leidet an etwas" oder jemand macht etwas "trotz" der Behinderung, kommt ganz oft vor, völlig unhinterfragt. Finden wir auch immer so leicht daneben, weil: Menschen machen eben Dinge mit ihrer Behinderung und die meisten Leute leiden nicht an ihrer Behinderung, sondern leben einfach mit ihr. Natürlich, wir wollen das nicht herunterspielen, eine Behinderung kann auch mal Leiden bedeuten. Aber das ist eben nicht das, was das Leben ausmacht mit Behinderung. Das ist sehr vielfältig.

Heise: Auf dem Weg zur Inklusion, die ja die ganze Zeit in unserer Gesellschaft diskutiert wird, wie weit sind wir da jetzt schon?

Maskos: Oh, das ist eine gute Frage. Ich würde ganz ehrlich sagen, dass wir in Deutschland noch nicht so weit sind momentan. Aber ich glaube, wie Politiker immer so schön sagen, auch eine Floskel: Wir sind da auf einem guten Weg!

Heise: Eigentlich gegen die Floskeln arbeitet die Internetseite www.leidmedien.de. Rebecca Maskos ist die Projektleiterin und Journalistin, arbeitet dort mit. Frau Maskos, ich danke Ihnen ganz herzlich!

Maskos: Bitte schön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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