Nicaragua

Weg vom Image Armenhaus Lateinamerikas

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Zwischen Nicaragua und Nachbarland Costa Rica gab es jahrelang Grenzkonflikte. © picture alliance / dpa
Von Markus Plate · 30.06.2014
Das sozialistische Land Nicaragua verändert sich: Es gilt als eines der wettbewerbsfähigsten Länder der Region, in das ausländische Firmen im vergangenen Jahr im Umfang von 1,5 Milliarden US-Dollar investiert haben.
Der alte Markt von Masaya ist ein Gewirr von spärlich beleuchteten Gängen. Frauen verkaufen Tortillas aus großen Körben, Schuster kleben und hämmern Schuhwerk zusammen, Familien bereiten günstige Mittagsgerichte für ihre Kundschaft zu. In einer Ecke riecht es streng nach Fleisch, dann intensiv nach Süßwaren oder Gewürzen, ein paar Meter später leicht moderig nach Klamotten, daneben nach Leder.
Masaya, die mittlerweile 140.000 Einwohner zählende Kolonialstadt, liegt 25 Kilometer südöstlich von Nicaraguas Hauptstadt Managua. Die Stadt lebt traditionell von der Landwirtschaft und vom Handwerk. Doch seit ein paar Jahren hat Masaya auch einen modernen, internationalen Arbeitgeber.
1000 Menschen haben hier einen Arbeitsplatz gefunden
Tom Dompert macht einen Rundgang durch die Fertigungshallen des deutschen Automobilzulieferers Dräxlmaier. Die Firma stellt Kabelbäume her - also Verkabelungen zum Beispiel für elektrische Spiegel oder Fensterheber - für die Automobilwerke in Nordamerika und Mexiko. Die Halle ist blitzsauber, dabei angenehm temperiert und beleuchtet. Rund 1000 Menschen aus der Umgebung haben hier einen Arbeitsplatz gefunden. Tom Dompert lebt seit gut vier Jahren in Nicaragua, er hat das Werk aufgebaut. Der Chef gibt sich leger, trägt Jeans und ein bequemes langärmliges Hemd, eine Krawatte gehört nicht zum Standardoutfit.
"Damals bei der Entscheidung wurde ja ganz Mittelamerika betrachtet. Nicaragua hat in dem Sinne gewonnen in dieser Suche. Zum einen ist es das sicherste Land der Region. Und die anderen Vorteile sind natürlich die steuerlichen Vergünstigungen, die es hier gibt in der Freihandelszone. So versucht natürlich auch Nicaragua, Investoren ins Land zu bekommen. Und natürlich die sehr wettbewerbsfähigen Lohnkosten hier."
Der Monats-Mindestlohn in den Freihandelszonen in Nicaragua beträgt gerade einmal 143 US-Dollar. Das ist nur ein Bruchteil der 500 Dollar, die im benachbarten Costa Rica bezahlt werden. Immerhin: Seit dem Amtsantritt von Präsident Daniel Ortega vor sieben Jahren hat sich dieser zwischen Regierung und Unternehmen ausgehandelte Mindestlohn fast verdoppelt.
Das Rohmaterial lässt das Unternehmen über den langen Landweg aus dem Logistikzentrum in Mexiko kommen. Das lohnt sich, eben dank der niedrigen Lohnkosten. Und die kommen nicht von ungefähr. Nicaragua gilt seit Jahrzehnten als das Armenhaus Lateinamerikas. Noch immer übernehmen oft Eselskarren den Transport auf dem Land, wo in Nachbarländern längst Kleinlaster fahren. Die Landstraßen – auch die nach Masaya – waren noch vor ein paar Jahren üble Schlaglochpisten. Nicht nur die Infrastruktur erschwert es bis heute, eine Fabrik zum Laufen zu bringen.
Mehr Geld für die Region
"Natürlich auch die Suche nach geeigneten Mitarbeitern. Und da war es teilweise schwer, qualifizierte Mitarbeiter zu finden, die halt einen Background oder einen Erfahrungsschatz haben im Ingenieursbereich oder in der Automobilindustrie. Und somit war uns auch klar, dass wir eine hohe Schulungsleistung bringen müssen, um diese neuen Mitarbeiter aus Nicaragua zum Beispiel für einige Zeit nach Mexiko zu schicken, wo wir schon eine etablierte Firma haben. Und das ist eine der Herausforderungen gewesen."
Mittlerweile läuft es richtig gut für den Automobilzulieferer in Nicaragua. Neben der bestehen-den großen Fertigungshalle wird gerade eine zweite fertiggestellt. Das bedeutet mehr und vor allem qualifizierte Jobs - und somit mehr Geld für die Region. Nur der Fiskus profitiert kaum: Wie viele internationale Firmen sitzt auch Dräxlmaier in einer Freihandelszone, die weitgehend steuerbefreit ist.
Auch anderswo in Nicaragua haben sich internationale Firmen niedergelassen. Zum Beispiel in Matagalpa. Die Stadt, rund 130 Kilometer von Managua entfernt, ist ein aufstrebender Handelsplatz. Das war nicht immer so: In den 1980er Jahren war der Ort am Übergang der heißen, pazifischen Tiefebene zur Bergregion Nicaraguas Frontstadt, umkämpft zwischen den revolutionären sandinistischen Regierungstruppen und den von den USA-finanzierten Contras. Seit dem Ende des Krieges 1990 wächst Matagalpa wieder. Handwerksbetriebe und Geschäfte haben sich angesiedelt, die wiederum Arbeitskräfte anziehen. Und die malerische Bergwelt, die indigenen Dörfer in der Umgebung und das im Vergleich zu den oft brütend heißen Städten der Pazifikebene vergleichsweise frische Klima sorgt für einen konstanten Zuzug von Aussteigern.
Manfred Günkel führt durch die Niederlassung eines deutschen Schokoladenherstellers, der ein paar Kilometer vor dem Ortseingang Matagalpas seit 2011 ein Anlieferzentrum für Kakao betreibt. Den liefern Bauernkooperativen aus dem Hochland und der feuchten Karibikregion. Mit einer Handvoll Mitarbeitern lässt Günkel die Kakaobohnen nach Qualität sortieren, wiegen und in der Sonne trocknen. Manfred Günkel hat deutsche Vorfahren, ist aber Nicaraguaner durch und durch. Auch wenn er mit der Zentrale in Baden-Württemberg deutsch spricht, fühlt er sich im Spanischen deutlich wohler.
"Damals stand die Entscheidung an, in Nicaragua oder Costa Rica zu investieren. Die Wahl fiel dann auf Nicaragua, weil das Investitionsklima besser ist, weil Land hier viel billiger ist und weil größere Flächen für eine Niederlassung zur Verfügung stehen. Sicherheit war ein weiterer Faktor. Nicht nur die persönliche Sicherheit, auch die Sicherheit der Investition."
Die Waren nach Europa zu bringen, ist nicht einfach
Dennoch sieht Günkel deutlich die noch real existierenden Defizite in seinem Land: Den Kakao nach Europa zu bringen, ist bislang nicht einfach. Die Laster entfernen sich zunächst von Europa, Richtung Pazifikküste, dann an die costa-ricanische Grenze und schließlich über San José wieder zur Karibik, an den costa-ricanischen Hafen Limón. Nur ein Beispiel dafür, dass Nicaragua noch einiges tun muss, um als Investitionsland gegen regionale Konkurrenten wie Costa Rica oder Panama bestehen zu können.
"Es muss mehr in Bildung, vor allem in technische Ausbildung investiert werden. Das würde noch mehr Unternehmen überzeugen, hier zu investieren. Die andere Sache ist die Infrastruktur. Vor allem auf dem Land muss das Straßennetz ausgebaut werden, auch wenn sich hier schon vieles verbessert hat. Die Behörden müssen effizienter arbeiten. Es gibt zwar nicht die Korruption wie woanders. Aber Verfahren sind oft quälend langsam. Zwar hilft uns in solchen Fällen PRONicaragua, aber eigentlich sollten die Behörden auch so schnell arbeiten."
"Lass uns gemeinsam wachsen", sagt das Werbevideo. Und PRONicaragua, die Investitionsförderagentur Nicaraguas, schreibt eine Erfolgsgeschichte. 2013 erreichten die Auslandsinvestitionen ein Volumen von 1,5 Milliarden US-Dollar, bei jährlich zweistelligen Steigerungsraten. Sie bescheren Nicaragua über fünf Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr – mit das höchste in Lateinamerika. Neben dem Fokus auf Textil- und Lebensmittelindustrie, Medizin- oder Automobiltechnik lädt PRONicaragua ein, in Windparks oder Tourismusprojekte zu investieren, Callcenter zu eröffnen oder Gold zu fördern. Managuas Nobelviertel Los Robles, in unmittelbarer Nähe von Luxushotels, internationalen Kulturinstituten und Unternehmenszentralen residiert PRONicaragua in einer ruhigen Nebenstraße. Besucher des modernen, einstöckigen Baus werden von der surrenden Klimaanlage und einem Temperatursturz auf 18 Grad empfangen, auch die Einrichtung ist, angelehnt an die Landesfarben weiß und blau, eher kühl gehalten.
Brücke zwischen Europa und China
Vinnitsa Leytón ist herausgeputzt, wie alle - vorwiegend jungen - Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von PRONicaragua. Sie ist schlank und voller Energie, trägt ein elegantes Kostüm, ihre fast schwarzen Haare glättet sie regelmäßig. Unterstützt von Graphiken auf ihrem Laptop referiert sie über die Standortvorteile Nicaraguas: Die Nähe zu den wichtigsten Märkten, zu den USA und Südamerika und als Brücke zwischen Europa und China. Doch ähnlich können sich auch andere Länder anpreisen. Der entscheidende Vorteil, in Vinnitsas Worten der "Bigpoint" von Nicaragua sei aber der unkomplizierte Zugang von Unternehmern zu höchsten Regierungskreisen:
"Im Ausschuss von PRONicaragua sitzen Unternehmens- und Regierungsrepräsentanten. Hier werden alle Probleme besprochen, mit denen Firmen zu kämpfen haben. Und wenn der Rat ein ernstes Problem feststellt, dann haben wir direkten Zugang zum Präsidenten und können so sehr schnell helfen. Außerdem haben wir das Mandat, Gesetze zur Überprüfung und Änderung vorzuschlagen, wenn diese Gesetze Hindernisse für Auslandsinvestitionen darstellen."
"Sozialistisch, christlich, solidarisch", wie die riesigen, rosafarbenen Regierungsplakate an allen Verkehrsknotenpunkten Managuas Niacaragua unter Ortega präsentieren - und gleichzeitig ein Paradies für Investoren? Wie das zusammengehen soll, erklärt der Werbefilm von PRONicaragua nicht. Vinnitsa Leytón dagegen schmunzelt kurz, antwortet dann aber selbstbewusst und aus – so scheint es – persönlicher Überzeugung.
"Investitionen und sozialistische Ideale widersprechen sich nicht! Den Ärmsten Wohlstand zu bringen, und Auslandsinvestitionen anzuziehen, ist kein Gegensatz. Im Gegenteil! Die Regierung hat gelernt, dass Wachstum nur über Auslandsinvestitionen entsteht und dass Armutsbekämpfung nur über Wachstum funktioniert. Daher heißen wir alle willkommen, die hier investieren wollen."
Mächtiger Präsident, harter Kommunismus
Während Ortega und sein Nicaragua in diesem Monat mit großem Pomp den 35. Jahrestag des Sieges der sandinistischen Revolution über die Somoza-Diktatur feiern werden, kann seine einstige Genossin Mónica Baltodano in diesem Jahr ebenfalls einen Jahrestag feiern: Vor vierzig Jahren ging sie gegen die Somoza Diktatur und für die sandinistische Revolution in den Untergrund. Heute ist die fast Sechzigjährige mit dem langen, wild gelockten Haar eine der entschiedensten Kritikerinnen Daniel Ortegas, ihres einstigen Revolutionsführers. Die gleichermaßen warmherzige wie kämpferische Ordensträgerin der sandinistischen Revolution hält die sozialistischen Ideale weiterhin hoch. Ihre Stimme bebt, wenn sie referiert, wofür Daniel Ortega heute wirtschaftspolitisch steht.
"Niemals zuvor in der Geschichte Nicaraguas war der Kapitalismus so stark und war das Land so sehr transnationalen Interessen ausgeliefert. Das war nicht der Traum Sandinos, nicht der Carlos Fonsecas, nicht all derer, die für den Traum eines freien Nicaraguas und einer alternativen Gesellschaft ihr Leben gaben. Daniel Ortega hat einen Diskurs, der links scheint, aber die Ungleichheit wird immer größer. Heute hat Nicaragua 85 Mehrfachmillionäre! Das ist ein sehr harter Kapitalismus hier."
Ein sehr harter Kapitalismus mit einem Präsidenten, der in den letzten Jahren immer mächtiger geworden ist. Das Parlament, die Ministerien, Gerichte und Gewerkschaften, alle seien Marionetten Ortegas, schimpft Mónica Baltodano. Dem Investitionsboom wird dies keinen Abbruch tun, das weiß sie. Solange "sozialistisch, christlich, solidarisch" im Nicaragua von heute nicht mehr als ein Slogan auf riesigen, rosafarbenen Regierungsplakaten ist.