Neurowissenschaft

Angst trainiert unser Gehirn

Was ist Angst? Angst ist Furcht, die nach einem Grund sucht, sagt der Hirnforscher Giovanni Frazzetto.
Angst ist die Furcht, die nach einem Grund sucht, sagt der Hirnforscher Giovanni Frazzetto. © picture alliance / ZB
Giovanni Frazzetto im Gespräch mit Katrin Heise · 14.04.2014
Wir brauchen die Angst zum Überleben. Diese Ansicht vertritt der Hirnforscher und Molekularbiologe Giovanni Frazzetto. Das komplexe Gefühl der Angst bringe dem Menschen den Vorteil, in seinem Leben Änderungen vornehmen zu können - während die Furcht allein dazu diene, Gefahren zu vermeiden.
Katrin Heise: Ein Hirnforscher, der gleichzeitig auch Dramatiker ist, den muss ich vielleicht näher vorstellen. Ich spreche von Giovanni Frazzetto. Er wurde in Italien in Sizilien geboren. Seinen Doktor der Molekularbiologie machte er in Heidelberg. Frazzetto war einer der Gründer des European Neuroscience & Society Network. Er gewann den John Kendrew Young Scientist Award, er lebt in London und in Berlin, wo er am Wissenschaftskolleg arbeitet. Seit seinem Studium interessiert er sich für das Verhältnis von Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur. Sein Schwerpunkt ist die Erforschung der Gefühle, und dazu hat er jetzt auch ein Buch veröffentlicht. Vor der Sendung war Giovanni Frazzetto zu Gast im „Radiofeuilleton". Schönen guten Tag.
Giovanni Frazzetto: Guten Tag!
Heise: Nehmen wir mal, Herr Frazzetto, um in die Welt der Gefühle einzutauchen, ein sehr starkes Gefühl: das Gefühl der Angst. Gerade uns Deutschen wird ja immer eine große Angst nachgesagt. Sie haben jahrelang über Angst geforscht, haben sich Hirnaktivitäten angeschaut, haben sich über genetische Voraussetzungen zur Angst informiert, aber Sie haben auch die Dichter und Denker herangezogen, haben in gewisser Weise auch Heidegger, Borges oder Shakespeare unter anderem zur Angst befragt. Haben Ihnen die Neurowissenschaften da nicht genügt?
Frazzetto: Mit der Neurowissenschaft können wir nicht unsere subjektive Erfahrung von Angst wirklich verstehen. Im Labor messen wir Furcht, aber was wir als Menschen erfahren, unsere ängstliche Stimmung, ist sehr schwer im Labor zu untersuchen. Deswegen brauche ich Hilfe von Dichtern oder Philosophen, um meine Angst besser zu verstehen.
Heise: Da sind wir bei einem Punkt. In Ihrem Buch behandeln Sie verschiedene Gefühle, Angst ist eines. Dem Kapitel der Angst haben Sie ein Zitat von T.C. Elliott vorangestellt, und zwar ganz kurz nur: „Angst ist die Magd der Kreativität." Ziehen Sie daraus den Schluss, wir sollen die Angst zulassen, wir brauchen die Angst?
"Im Labor können wir Furcht messen, aber nicht Angst"
Frazzetto: Ja! So wie wir Furcht brauchen zum Überleben, weil Furcht gibt uns die Möglichkeit, Gefahren zu vermeiden, brauchen wir Angst zum Existieren. Angst gibt uns den Vorteil, etwas in unserem Leben zu ändern, und deswegen kann man mit Elliott sagen, das ist die Magd der Kreativität, weil wir sind wahrscheinlich sehr gewöhnt daran, Angst zu haben und Sorgen uns zu machen, aber wir können vielleicht einen anderen Weg nehmen, um vielleicht die Aufmerksamkeit von Ängsten und Sorgen abzulenken. Damit trainiert sich auch unser Gehirn, durch Plastizität einander verhalten zu haben, schrittweise.
Heise: Sie haben jetzt häufiger von Furcht und von Angst gesprochen. Wie unterscheiden Sie Furcht und Angst?
Frazzetto: Ja. Wir haben Furcht vor etwas Spezifischem. Wir haben Furcht von Fliegen oder Löwen, Dunkelheit. Angst ist nicht so spezifisch. Angst ist Furcht, die nach einem Grund sucht, Angst vor etwas Unbekanntem. Deswegen gehört Angst zum Leben. Aber das bringt mich auch zu dem Hauptunterschied zwischen Emotionen und Gefühlen. Wie gesagt, im Labor können wir Furcht messen, aber nicht Angst. Emotionen sind alle unsere schnellen und automatischen Reaktionen auf die Umwelt und die Gefühle sind die Emotionen, die bewusst geworden sind. Erst mal kommen unsere körperlichen Reaktionen und dann kommt die subjektive Erfahrung.
Heise: Ich verstehe noch nicht ganz, warum wir Angst im Leben, warum es das Gefühl der Angst tatsächlich braucht, warum wir das Gefühl Angst tatsächlich brauchen. Es wäre doch viel einfacher, ohne Angst zu sein.
Frazzetto: Ich weiß es nicht. Wir denken immer, dass Angst etwas Schlechtes ist. Wir sollen Angst vermeiden. Das bringt die Gesellschaft in Frage. In unserer Gesellschaft gibt es viele Gefühle, die wahrscheinlich wir nicht haben sollten. Angst ist eines, aber auch Trauer und sogar Depression oder Wut und so weiter. Ich sage immer, es gibt keine guten und schlechten Gefühle. Genau wegen der Evolution brauchen wir alle diese Fähigkeiten. Es klingt komisch, wir sollen Angst haben, aber das habe ich von der Philosophie gelernt. Wir brauchen das, um unser Leben besser zu verstehen. Aber ich bin dann mit diesen Kenntnissen von der Philosophie zurück in die Wissenschaft gegangen und ich habe auch Experimente gefunden, die das so ein bisschen ähnlich betrachten.
Heise: Der Neurowissenschaftler Giovanni Frazzetto, mein Gesprächsgast im „Radiofeuilleton". – Herr Frazzetto, wenn Sie das so erklären, dann kommt es mir so vor, als sollten wir dann aber doch die Angst, sagen Sie - auf der einen Seite ist sie wichtig – zulassen. Auf der anderen Seite sollten wir aber mit ihr umgehen oder aus ihr lernen.
"Es ist schwer, Angst zu vermeiden - Angst gehört zu uns"
Frazzetto: Ja! Es ist schwer, Angst zu vermeiden. Angst gehört zu uns. Wir können davon profitieren und uns trainieren, um mit Angst besser umzugehen. Von diesem Training trainiert sich auch unser Gehirn, einen anderen Weg zu nehmen. Im Labor kann man sehen, welche Richtung Angst im Gehirn nimmt, und statt alle diese Reaktionen zur Ursache zu machen, dass das Herz schneller klopft, gibt es nicht mehr diese Reaktion und wir nehmen eine bessere Entscheidung.
Heise: Das heißt, als Hirnforscher kann man dem Weg, den der Reiz, die Angst im Gehirn dann auslöst, dem Reiz der Angst, regelrecht folgen.
Frazzetto: Ja.
Heise: Und dieser Weg wird ein anderer, wenn die Maus beispielsweise einem über den Weg läuft?
Frazzetto: Genau, ja. Dieses Experiment hat uns das erklärt, welche Richtung hat die Furcht im Gehirn von Mäusen genommen. Das ist faszinierend.
Heise: Unser Glaube an Zahlen und Bilder verleiht ja der Neurologie insgesamt in den letzten Jahren große Autorität. Wir glauben erst was wir sehen, und wenn man das dann tatsächlich bildlich darstellen kann, welchen Weg die Angst beispielsweise nimmt, glauben wir es sehr viel eher. Es wird schon diskutiert, beispielsweise ob Verbrecher überhaupt noch für ihre Taten verantwortlich gemacht werden, wenn neuronale Prozesse in ihrem Hirn quasi sie zum Mörder werden lassen. Sie diskutieren das in Ihrem Kapitel über die Wut beispielsweise. Sehen Sie da eine Gefahr drin, in dieser groß oder immer größer werdenden Einflussweise der Neurologen?
Frazzetto: Ja. Das habe ich eine Neurokultur genannt. Wir denken, dass, wenn wir unser Gehirn verstehen, unsere Neuronen, dann verstehen wir auch uns selber, unsere Identität. Und damit habe ich ein kleines Problem. Selbst als Wissenschaftler habe ich natürlich viel Glaube an die Wissenschaft, an den Fortschritt. Aber in meinem Buch erzähle ich Episoden, eine Geschichte aus meinem Leben, und benutze meine eigenen Erfahrungen im Labor zu erklären, dass manchmal ist die Neurowissenschaft natürlich sehr hilfreich und lässt mich viel über mich selber verstehen. Aber besonders wenn es um die Erfahrung von Emotionen geht, dann brauche ich Hilfe von etwas anderem. Deswegen nehme ich Inspirationen von Dichtern oder Philosophen und Malern.
Heise: Wie würden Sie denn insgesamt sagen, wenn Sie als Wissenschaftler darauf gucken, aber auch wenn Sie als Geisteswissenschaftler quasi darauf gucken, wie gehen wir in unserer Gesellschaft mit den Gefühlen, mit unseren Gefühlen um?
"Wir Individuen sind ähnlich, aber auch sehr anders"
Frazzetto: Ich finde es sehr interessant, dass unsere Gesellschaft manchmal Gefühle kreiert. Einige Gefühle werden von unserer Gesellschaft kreiert. Wir reden oft über Depressionen. Es gibt zum Beispiel zurzeit eine große Debatte über Trauer, ob Trauer eine psychiatrische Krankheit ist oder nicht. Und wie wir über Gefühle sprechen, die Sprache der Gefühle wird viel von der Gesellschaft beeinflusst.
Als Integration von Wissen, denke ich immer, es ist möglich, wenn Wissenschaftler mit Anthropologen oder Soziologen reden, wenn wir über Depressionen reden. Es gibt so viel Variabilität zwischen Individuen, die an Depressionen leiden, und diese Variabilität ist biologisch. Wir sind ähnlich, aber auch sehr anders. Und das finde ich bedauerlich, dass ein Neurowissenschaftler nur um die genetischen Ursachen der Depression sich kümmert und nichts von Phänomenologie kennt oder nichts von Anthropologie.
Wenn wir zum Beispiel den Kontext oder die Lage in dem anderen Menschen, der sehr stark an Depressionen leidet, besser kennen durch die Arbeit von Anthropologen, können wir wahrscheinlich zurück an diesen Menschen gehen und dann im Gehirn oder in den genetischen Hintergrund dieses Menschen gehen und besser die Biologie verstehen. Aber das entsteht aus einem Dialog zwischen den beiden Disziplinen.
Heise: Ein Dialog, den Sie auf jeden Fall fördern wollen – der Neurowissenschaftler Giovanni Frazzetto, Neurowissenschaftler und Dramatiker. Ich danke Ihnen schön, Herr Frazzetto, für den Besuch hier.
Frazzetto: Vielen Dank! Es hat mich gefreut.
Heise: Sein Buch „Der Gefühlscode" ist übrigens im Hansa-Verlag erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.