Neues Lebensgefühl

Walter Kappachers Roman "Selina" handelt vom Nächstliegenden, den Dingen unter unseren Augen, und vom Fernsten, der Vorstellung, dass ebenso gut auch nichts in der Welt sein könne, und dass die Existenz mit dem Tod völlig verlöscht.

Erzählt wird die Geschichte des Italienaufenthalts eines österreichischen Lehrers, der eine Auszeit nimmt und dabei ein verfallenes Haus in den Bergen der östlichen Toskana wieder bewohnbar macht. In dieser Einsamkeit und neuen Umgebung entwickelt er im Verlauf seiner ganz praktischen Tätigkeit ein neues, metaphysisches Lebensgefühl.

Dies zeigt der Erzähler Walter Kappacher nicht in philosophischen Erwägungen, sondern in mosaikhaft detaillierten Schilderungen der alltäglich-ungewohnten Erfahrungen während dieser Monate in fremder Umgebung. Land und Leute kommen ebenso in den Blick wie meditative Erfahrungen mit Literatur und Philosophie. Literarische Bezugspunkte sind der späte Adalbert Stifter mit seinem fast regungslosen Zeitabläufen und Jean Pauls Spekulationen über den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele. "Selina" ist der Titel des letztes Werkes von Jean Paul - in Kappachers Buch der Name einer unerreichbaren Liebe der Hauptfigur.

Der Roman wirkt auf seine Leser langsam und indirekt - durch Verlangsamung der Wahrnehmung und meditative Stille. Kappacher ist ein später Vertreter jenes Erzählens "auf dem Tempo Null", das Heimito von Doderer für die wichtigste Errungenschaft des modernen Romans hielt. Peter Handke gehört zu den Bewunderern des in Österreich versteckt lebenden, inzwischen fast 70-jährigen Autors.

Walter Kappacher: Selina oder Das andere Leben.
Roman.
Deuticke Verlag Wien 2005.
255 Seiten, 19,90 Euro.