Neuer Stasiunterlagen-Chef will Rolle der SED stärker untersuchen

Roland Jahn im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 28.01.2011
Der neue Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, will bei der Arbeit seiner Behörde stärker die Rolle der SED untersuchen. Er stehe dafür, dass er nicht nur den Blick auf die Staatssicherheit richte, sagt Jahn.
Liane von Billerbeck: Seit heute ist klar, dass die Stasiunterlagen-Behörde ab Mitte März von der Birthler- zur Jahn-Behörde wird, jedenfalls umgangssprachlich, denn der Fernsehjournalist Roland Jahn, DDR-Dissident und Bürgerrechtler, wurde heute vom Bundestag zum neuen Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR gewählt.

In Berlin bin ich jetzt telefonisch mit Roland Jahn verbunden. Schönen guten Tag und herzlichen Glückwunsch erst mal!

Roland Jahn: Schönen guten Tag und danke!

von Billerbeck: Wie haben Sie Ihre Wahl heute im Bundestag erlebt?

Jahn: Ach, das war eigentlich eine tolle Sache, weil für mich war das eine persönliche Genugtuung, eine große Genugtuung, weil die Staatssicherheit hat sozusagen stark in mein Leben eingegriffen. Sie hat mich von der Uni geschmissen, sie hat mich ins Gefängnis gesperrt und sie hat mich gewaltsam in den Westen abgeschoben, sozusagen aus der Heimat weggebracht. Das ist schon sehr bedeutsam. Und dass ich jetzt die Akten der Stasi sozusagen verwalten soll, das ist schon eine bedeutende Angelegenheit. Aber ich finde es schon auch politisch wichtig, denn meine Wahl ist damit ein deutliches Signal gegen das Vergessen und macht deutlich, dass die Aufarbeitung weitergehen soll.

von Billerbeck: Wir haben es eben gehört und Sie haben es auch geschildert, Ihnen ist ja fast alles erlebt, was einem Oppositionellen in der DDR widerfahren konnte: Rauswurf aus der Uni, Inhaftierung gleich mehrfach, Rauswurf aus der DDR. Wie nahe ist Ihnen das alles noch?

Jahn: Ach, ich lebe natürlich hier und jetzt, aber ich verdränge nichts. Dort, wenn es angebracht ist, spreche ich darüber, und ich erinnere mich gerne auch deswegen, weil ich dann immer das Gefühl habe, es ist vorbei. Ich kann jetzt frei leben und ich habe aber das Gefühl, dass es wichtig ist, das anderen auch noch zu vermitteln, zu beschreiben, wie diese Diktatur in der DDR funktioniert hat. Und da sind Zeitzeugen sehr, sehr wichtig. Es ist mir wichtig, dass nicht nur Akten die Geschichtsschreibung bestimmen, sondern dass auch Zeitzeugen immer wieder sprechen, wie sie diese Zeit erlebt haben.

von Billerbeck: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, der hat Ihnen ja heute Vernunft und Augenmaß bei der Wahl gewünscht – was heißt das, Vernunft und Augenmaß, wenn man sich professionell und in so einer Institution mit dem Umgang mit dem DDR-Erbe, mit den Stasiakten, kümmert?

Jahn: Also ich denke, dass er recht hat, dass man, wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt, auch Vernunft und Augenmaß braucht. Aber da schätze ich auch eine meiner Stärken ein, weil ich natürlich in meiner Arbeit als Journalist fast 30 Jahre lang genau das auch immer an den Tag legen musste, weil ich natürlich gründlich recherchieren musste, bevor ich sende, weil ich bereit sein musste, Vorurteile auch wegzurecherchieren. Und ich denke, gerade auch das journalistische Handwerkszeug ist doch hilfreich bei der Aufklärung von Missständen, und hier geht es um die Aufklärung einer ganzen Diktatur. Wir wollen endlich wissen oder besser begreifen, wie diese Diktatur funktioniert hat, weil je besser wir begreifen, wie diese Diktatur funktioniert hat, desto besser können wir auch hier und heute Demokratie gestalten.

von Billerbeck: Sie haben auch davon gesprochen, bei Ihrer Amtseinführung – oder Wahl heute, genauer gesagt –, dass Sie sich als Anwalt der Opfer sehen. Was muss denn da geschehen, wie lassen sich die Verletzungen, die gebrochenen Biografien, die verlorenen Jahre, die man nicht zurückbekommt, "wiedergutmachen", in Anführungsstrichen?

Jahn: Also ich denke, gerade beim Thema Aufarbeitung stehen die Opfer immer an erster Stelle. Das ist sozusagen der Grund, weswegen wir es machen, dass wir den Opfern ihre Würde zurückgeben. Und schon die persönliche Akteneinsicht ist so eine Sache, wo die Opfer doch zu ihrer eigenen Biografie wiederfinden. Wenn jemand von der Uni geflogen ist wegen schlechter Leistungen, kann es sein, dass hier die Stasi eingegriffen hatte. Und wenn er in der Akte erfährt, dass es nicht sein Versagen war, sondern das Einwirken der Stasi, dann geht er gestärkt aus dieser Akteneinsicht heraus. Und das ist das Wichtige, dass die Menschen wieder zu ihrer Biografie finden.

von Billerbeck: Sie haben aber auch gesagt, Herr Jahn, Sie seien für eine differenzierte Aufarbeitung der DDR-Biografien auch der Täter. Können dabei die Akten der Staatssicherheit helfen?

Jahn: Selbstverständlich können auch hier die Akten helfen, aber was wir brauchen, ist für eine differenzierte Aufarbeitung das Bekenntnis zur Biografie. Die Täter müssen auch die Karten auf den Tisch legen. Wir müssen nicht immer salamischeibchenweise sozusagen da hinterherrennen und da mal eine Akte ziehen und da mal eine Akte ziehen. Akten und persönliches Bekenntnis kann zu einer differenzierten Aufarbeitung führen, aber das ist genau das, was ich noch vermisse: dass sich die Täter wirklich zu ihrer Biografie bekennen und Verantwortung übernehmen, Verantwortung übernehmen für das, was sie den Menschen angetan haben, was sie den Opfern sozusagen von Repression und dem System der Staatssicherheit angetan haben.

von Billerbeck: Ein Kritikpunkt an der Debatte, an der öffentlichen Debatte um die Stasiakten ist ja, dass man sich zu sehr auf die Staatssicherheit bezieht und zu wenig das politische System, die SED, in den Blick nimmt. Wird sich da etwas ändern, muss sich da etwas ändern?

Jahn: Also ich stehe dafür, dass ich hier nicht nur den Blick auf die Staatssicherheit richte, weil wer war Auftraggeber der Staatssicherheit? Das war die SED, und deswegen ist auch die Linksfraktion im Bundestag, auch die Linkspartei insgesamt in einer besonderen Verantwortung, dass sie sozusagen beiträgt als Nachfolgepartei der SED, hier bei der Aufklärung der Diktatur in der DDR zu helfen. Mir ist es wichtig, dass man klar unterscheidet zwischen dem Gesamtsystem und den Instrumenten, die hier gewirkt haben, in dem Fall die Staatssicherheit als Schild und Schwert der Partei. So hat sie sich selber immer bezeichnet.

von Billerbeck: Es wird ja immer der Begriff Unrechtsstaat benutzt und es wird heftig darum debattiert. Ist das für Sie eine zutreffende Charakterisierung für die DDR oder ist das eine Verkürzung einer komplexeren Wirklichkeit?

Jahn: Also ich diskutiere gar nicht mehr über den Begriff Unrechtsstaat, weil ich denke, es geht auch nicht um einzelne Begriffe, da kann man sich ewig drum streiten. Natürlich ist für mich die DDR ein Unrechtsstaat, weil sozusagen das Unrecht vom Staat her abgesichert wurde. Es geht um die konkreten Erlebnisse, die die Menschen haben. Und wenn ich sozusagen von meiner Arbeitsstelle gekündigt werde, angeblich weil ich da gegen Arbeitsdisziplinen verstoßen habe, aber dann vor Gericht klage und verliere, dann der Stasioffizier zu mir in die Zelle kommt und sagt: Haben Sie nun gesehen, es geht nicht darum, wer recht hat, sondern wer die Macht hat – und die haben wir, die Staatssicherheit. Das ist für mich Unrechtsstaat.

von Billerbeck: Sie waren nun viele Jahre Journalist, unter anderem beim ARD-Politmagazin "Kontraste", Sie haben investigative Beiträge gemacht, nun werden Sie Chef einer Behörde mit, ich glaube, 3000 Mitarbeitern. Geht Ihnen da, wie der Berliner sagt, nicht heftig die Muffe?

Jahn: Ach, im Endeffekt denke ich, ist es gut und wichtig, dass hier eine Behörde existiert mit vielen Mitarbeitern, die diese Arbeit unterstützt, die diese Arbeit im Prinzip leistet. Ich bin ein Teamplayer. Ich bin … schon als Kind beim Fußball habe ich gelernt, mit der Mannschaft zu spielen. Und auch als Journalist lernt man sozusagen, im Team zu arbeiten. Kamera, Schnitt, Archivrecherche – all das ist ein Bestandteil guter Reportagen, und das ist mir wichtig sozusagen, deutlich zu machen, dass wir nur gemeinsam hier Aufarbeitung leisten können, dass es nicht auf einen Bundesbeauftragten nur ankommt, sondern dass man sozusagen mit vielen, vielen Leuten hier das Thema voranbringt.

von Billerbeck: Roland Jahn, heute zum neuen Leiter der Stasiunterlagen-Behörde gewählt. Danke Ihnen und alles Gute!