Neue Musik

    Sehnsucht nach vorn

    Der amerikanische Komponist und Schriftsteller John Cage
    Der amerikanische Komponist und Schriftsteller John Cage © picture alliance / dpa / Jörg Schmitt
    Von Michael Rebhahn · 27.12.2016
    "Tabula rasa" war das Ideal einer Generation von jungen Komponisten nach 1950: Gegen nostalgische Verklärung, für einen radikal neuen Umgang mit Formen und Materialien. Doch bald gab es Streit über das utopische Moment dieser Avantgarde und ihre Werke.
    Die Überforderung, die aus Theodor W. Adornos wohlgemeinter "Anweisung zum Hören Neuer Musik" aus dem Jahr 1952 spricht, ist kalkuliert. Eingängigkeit oder beiläufige Verständlichkeit konnte kein Maßstab sein für eine Musik, die im Begriff war, sich neu zu erfinden, die alles in Frage stellte, was musikalische Konvention hieß. Es galt, anzuknüpfen an die Utopie einer gänzlich neuen Gestalt des Musikalischen, wie sie die Zweite Wiener Schule zugrunde gelegt hatte. Schon damals spielte das "Verstehen" eine untergeordnete Rolle.
    Arnold Schönberg konnte nicht ahnen, dass es dort, wo er seine Gedanken weitergab, schon zwei Jahre später nicht mehr um Verständnis gehen, sondern dass sich alles denunziert finden würde, was sich nicht mit einem pervertierten Kulturbegriff konform erklärte. Zwölf Jahre fand die Moderne kein Gehör mehr, ihre Protagonisten gingen ins Exil: Die Entwicklung einer zukunftsweisenden Kultur war weitgehend ausgesetzt. Nach 1945 bedeutete das: Es musste eine "neue" Kultur, eine Neue Musik entworfen werden.
    Ganz im Sinne von Ernst Blochs Forderung nach einer "Sprengung" trieb das Ideal einer Tabula rasa die jungen Komponisten um: Keine nostalgischen Verklärungen, sondern ein radikal neuer Umgang mit musikalischen Formen und Materialien. Der sogenannte "Serialismus" – die planvolle Determination aller musikalischen Parameter – schien den Königsweg zu bereiten. Einer der Protagonisten dieses utopischen Aufbruchs war Pierre Boulez.
    Der Aufbruch in die "anderen Landschaften" geschah natürlich nicht ohne Navigationshilfe. Zweifellos standen die Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule bei diesen Erkundungsgängen als Leitlinie im Hintergrund. Aber dennoch: Die Rede von der Tabula rasa war allgegenwärtig, und vermutlich war diese Verabsolutierung einer unbedingt Neuen Musik auch notwendig, um eine veritable Innovation behaupten zu können. Kompromisse wären da nur hinderlich gewesen. Natürlich ist dabei das Risiko nicht zu unterschätzen, das von einer zur Ultima ratio erklärten Ästhetik ausgehen kann; allzu schnell laufen solche Glaubenssätze Gefahr, in Selbstreferenz zu erstarren. Aber es war ja nicht einzig das serielle Prinzip, an dem sich die damaligen Zukunftsentwürfe ausrichteten.

    Stockhausens "Gesang der Jünglinge"

    Die elektronische Musik bot das Potenzial einer enormen Exaktheit, die dem Prinzip der seriellen Musik zwar eingeschrieben ist, mit mechanischen Instrumenten aber nur unzureichend zu realisieren war. Nun konnte jeder Ton in Frequenz, Amplitude und Dauer detailgenau bestimmt werden. In seinem 1956 fertiggestellten "Gesang der Jünglinge" erprobte Karlheinz Stockhausen sämtliche Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung und schuf damit eine bis dahin tatsächlich ungehörte Musik.
    Dass sich das Utopische nicht in seiner Projektion in eine unbestimmte Zukunft, sondern in der Realität gegenwärtiger Verwirklichung zu ereignen habe, fordert Karlheinz Stockhausen hier unmissverständlich. Allem Anschein nach war man schlicht zu begeistert von Medien und Methoden, als dass sich die Fragen nach dem "Wohin?" und dem "Wozu?" aufdrängten. Doch während die jungen Komponisten sich voller Enthusiasmus an den neuen Kompositionsmethoden ästhetischer wie technischer Natur abarbeiteten, waren die kritischen Beobachter, allen voran Theodor W. Adorno, rasch skeptisch. 1955 holte er zum Rundumschlag aus und stellte in Frage, was sich in der ersten Hälfte des Nachkriegsjahrzehnts an Innovationen ereignet hatte. Elektronische Musik klinge für ihn, so ließ er wissen, als spiele man "Webern auf der Hammondorgel", und der Rigorismus serieller Methoden war ihm ohnehin suspekt.
    Auch Luigi Nono, anfänglich als Protagonist der seriellen Musik vereinnahmt, fühlte sich in seinen Idealen verraten. Er hatte nie die Absicht verfolgt, eine Musik zu schreiben, die das Bereitstellen einer Aussage leugnet. Im Gegenteil: Seine Musik galt ihm in erster Linie als Mittel einer individuellen Positionierung – historisch wie politisch. Eine geschichtsvergessene, nicht in die Gegenwart eingreifende Musik schien ihm schlicht eitel und damit letztlich unnütz.
    Nonos Utopie war die einer politisch wirksamen Musik. Einer Musik, die sich aktiv und explizit verhält: zur gesellschaftlichen Realität jenseits der geschützten, eigengesetzlichen Räume der Kunst. Seine Komposition "La fabbrica illuminata" verwendet etwa die Geräuschkulisse aus einem Stahlwerk in Genua.

    Eine nicht-intentionale Musik

    Zu hören war scheinbar nichts. 4'33'' heißt das Stück, mit dem John Cage den denkbar radikalsten Gegenentwurf zur seriellen Utopie einer rigiden Determinierung des Musikalischen etablierte. Für eine beliebige Besetzung konzipiert, bestimmt die Partitur nichts außer dieser Zeitdauer; in den drei Sätzen findet sich keine einzige Note notiert; klingen soll lediglich das, was sich zufällig in der festgelegten Zeitspanne akustisch einfindet. 4'33'' ist sicher die radikalste Ausprägungsform von Cages Entwurf einer nicht-intentionalen Musik. Er lieferte damit die konsequenteste Entsprechung seiner Vorstellung, dass jede Erfahrung zu einer ästhetischen geraten kann, sobald sie bewusst vollzogen wird. In 4'33'' gibt es nichts, was die Wahrnehmung verstellt, keine Töne, die Vorrang vor der jeweiligen akustischen Umgebung beanspruchen, bloß weil sie von einem Interpreten auf einer Bühne hervorgebracht werden.
    Auf diese Weise wollte Cage eine Musik erhalten, die, wie er sagt, "frei von individuellem Geschmack, Gedächtnis und Tradition" ist. Sein Anliegen ist nicht mehr der Ausdruck eines bestimmten musikalischen Gedankens, als vielmehr die Bereitstellung einer bloßen Abfolge von akustischen Ereignissen, mit denen der Hörer etwas anfangen kann – oder auch nicht.
    Die Vorstellung einer Musik, die sich jeglicher Form von kultureller Setzung und gesellschaftlicher Normierung entzieht, wirkte in Folge der ästhetischen Entwürfe John Cages nachhaltig. In England war es der Komponist und Improvisationsmusiker Cornelius Cardew, der sich um eine voraussetzungslose Musik bemühte und sie zugleich ganz ausdrücklich politisch positionierte. Mit dem Scratch Orchestra, einem Ensemble, das jedem Interessierten offenstand, intendierte er eine hierarchiefreie Form des Musizierens – unbehelligt von kulturellen Kompetenzen, Konventionen oder Codes.

    Was meint "kritisches Komponieren"?

    Mathias Spahlinger, Jahrgang 1944, gehört zu einer Generation von Komponisten, für die ein "kritisches Komponieren" der folgerichtige Reflex auf die politische und soziale Verfasstheit ihrer Gegenwart war. "Kritisches Komponieren" meint den Entwurf einer von allem Unreflektierten gereinigten Musik – einer Musik, die sich über sich selbst Rechenschaft ablegen soll. Musik aber könne nur etwas über sich selbst aussagen, wenn sie auch etwas über den Menschen aussage. In einer solchen musikalischen Praxis gehe es letztlich um die des Menschen, also um die gesellschaftliche Praxis.
    2009 konzipierte Mathias Spahlinger für die Donaueschinger Musiktage "doppelt bejaht. Etüden" für Orchester ohne Dirigent. Eine Arbeit, in der die Utopie des selbstbestimmten Musikers noch einmal neu entworfen wird.
    "Für doppelt bejaht", sagt Mathias Spahlinger, "waren Spielanweisungen zu erfinden, die die Aufmerksamkeit und die Verantwortung der Musiker aufs Ganze richten, das, weil es sich um neue Musik handelt, nur ein widersprüchliches, in sich veränderbares und sich veränderndes, ein ganz offenes sein kann". 24 solcher Spielanweisungen hat Spahlinger notiert.
    In "doppelt bejaht" stellt Mathias Spahlinger die Produktionsmittel und -bedingungen Neuer Musik einmal mehr zur Disposition und hält damit eine Denkfigur aufrecht, die zumal bei Komponisten der jüngeren und jüngsten Generation fruchtbar bleibt. Eine veritable Infragestellung des Eingeübten, für selbstverständlich Hingenommenen erfordert nach wie vor einen Zweifel gegenüber allen Konstituenten, die das Dispositiv dieses Eingeübten ausmachen: Instrumente und ihre Formationen, Konventionen notationaler und medialer Art, Aufführungs- und Präsentationspraktiken, Orte, Räume, Kostümierungen, Begründungs- und Erklärungsstrategien, der infrastrukturelle Überbau mit allen seinen Festivals, Wettbewerben, Preisen und Stipendien.
    Nichts davon hat eine Gültigkeit, die nicht auf den Prüfstand gestellt werden könnte. Dass gewisse Übereinkünfte, Rituale und Codes seit Jahrhunderten legitimiert sind und – zumindest im Rahmen ihrer Eigengesetzlichkeit – "funktionieren", sollte weniger eine Aufforderung zur kontinuierlichen Affirmation sein als vielmehr eine Herausforderung, eben jene in Frage zu stellen. Zwei dieser ungebrochen kritischen Komponisten sind Martin Schüttler und Patrick Frank.

    Mikrodifferenzierung klanglicher Oberflächen

    Die Schaffung des "Neuen" in Permanenz, der unausgesetzte Fortschrittsglaube, den die "Neue Musik" schon qua Selbstbezeichnung für sich beansprucht, ist Komponisten wie Schüttler und Frank suspekt. Vermeintlich oder tatsächlich "neue" Klänge zu finden, resultierend letztlich in der Mikrodifferenzierung klanglicher Oberflächen, scheint in der Neuen Musik als Motiv der künstlerischen Arbeit allerdings ungebrochen fortzuwirken. Zahlreiche junge Komponisten interessieren dagegen weniger Fragen des musikalischen Materials im Sinne eines handwerklich-kunstgerechten Umgangs mit Tönen, Klängen und Rhythmen. Stattdessen sind es die ästhetischen Gehalte – das, was die Musik über ihre bloßes Klingen hinaus aussagt –, die sie als entscheidendes Moment einer zukunftsfähigen Musik identifizieren.
    Das utopische Moment einer Neuen Musik besteht einmal mehr und immer noch darin, ihrer Funktion und Wirkung mit einem unausgesetzten methodischen Zweifel zu begegnen. Zugleich bedarf es einer im besten Sinne demütigen Aufmerksamkeit: Statt von einer "höheren Warte" aus zu kommunizieren, sich als Berufener zu fühlen und ein "Ausdrucksbedürfnis" zum Movens der künstlerischen Arbeit zu erheben, geht es darum, sich zur Gegenwart zu verhalten, um der Zukunft der Neuen Musik einen Sinn zu geben.
    Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
    Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
    "Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago