Neue Musik

Grenzüberschreitung in der kulturellen Laubenkolonie

Der Schallplattenspieler eines Diskjockeys.
Silent DJs sind beim faithful-Festival am Werk. © picture-alliance/dpa- ZB / Andreas Lander
Von Laf Überland · 17.11.2014
Vierteltonmusik aus den 20er-Jahren, 3D-Klanginstallationen und Filme: allerhand Verspieltes und Anstrengendes gibt es beim Festival "faithful! II" für Neue Musik in Berlin zu hören. Die Besucherzahlen inspirieren zu zu bildhaften Vergleichen.
"Für mich ist die Neue Musik genauso zu finden im Hip Hop oder im Trip Hop oder in der gut gemachten Clubmusik, bei der elektronischen Musik oder im Postrock. Für mich ist die Neue Musik längst eine, die sich durch heute existierende Musik eigentlich bewegt."
Elke Moltrecht hat dieses Festival allein gestemmt. Treue und Verrat sind hier ernsthaft diskutiert worden. Aber sie zieht den Bogen weiter. Denn es gibt diese vollständigen Vermischungen - im Dancefloorbereich: Auf Plattenspielern können DJs alles zusammenmischen, was sie zusammenhören wollen. Und so war es folgerichtig, das - von der Kuratorin gegründete - Ensemble Extrakte auf der Basis von DJs spielen zu lassen: Die waren allerdings witzigerweise – als Silent DJs - fürs Publikum nicht zu hören, oder nur manchmal, ein bisschen: Stattdessen hatten die Musiker die Beats in ihren Kopfhörern, zu denen sie ihre akustischen, zumeist traditionellen Instrumente spielten.
"Es heißt Ensemble Extrakte, weil ich nach musikalischen Extrakten suche, ja. Die Musiker kommen aus verschiedensten Kulturkreisen und wollen sich auch nicht einordnen in die zeitgenössische Musik, die ja eigentlich ein Begriff des 20. Jahrhunderts und eben längst überholt ist",
… und so haben ein italienischer Bassist und Elektroniker, eine australische Oboistin, eine bulgarische Sängerin, ein syrischer Lautenspieler, haben zehn Musiker aus aller Welt - einschließlich der beiden DJs - in monatelanger Vorbereitung ihre unterschiedlichen Spielauffassungen zusammengegossen, bis alle einverstanden waren mit dieser, sagen wir mal: Neuinterpretation der Loops und Beats aus der typischen Berliner Clubgeschichte seit den 90ern. Und man kriegte bei der Aufführung das Gefühl, mit in einem magischen Sandkasten zu sitzen, wenn man diesem tatsächlichen Dialog zuhörte – auf der Basis einer unhörbaren Musik, die aber Musiker sichtbar atmeten, sozusagen. Schnappatmung kriegte man hingegen bei dem Kollektiv mit dem coolen Namen The Los Angeles Free Music Society.
Verspieltes und Anstrengendes
Diese zehnköpfige Society sieht aus wie eine in die Jahre gekommene Hippiekommune mit ein paar Enkeln: Hinten eine lange Reihe Tische, auf denen – zwischen heillosem Kabelwirrwarr – moderne und antike elektronische Instrumente bedient werden, davor eine Sängerin - und lachende Geräuschemacherin - im roten Overall, ein nach Rockmusiker aussehender Lap-Steel-Gitarrist und ein langbärtiger Zausel mit einem Ungetüm von Strickmütze auf dem Kopf und allerhand Spielzeuginstrumenten. Und was die da aufführen im Berghain, sind Stücke, die sie vor vierzig Jahren zum Teil erarbeitet haben. Manchen Besuchern fällt Frank Zappa ein, mir selbst die frühen Gong: Aber dies ist kein Happening, das ist alles sehr sauber strukturiert: vorausgeplant, teilweise aufgeschrieben...
Allerhand Verspieltes und allerhand Anstrengendes gab es über die ersten vier Festivaltage an drei Spielorten zu entdecken: Vierteltonmusik aus den 20er-Jahren, Remixe von Iannis Xenakis' Großwerk Persepolis als 3D-Klanginstallationen – in dem True-3D-System des 72-jährigen Konzeptkünstlers Charlie Morrow; es gab Filme zu sehen, und was sich im Programm so trocken liest wie für den Schulunterricht : Interpretationsvergleich – das macht den ausführenden Musikern aus völlig unterschiedlichen Genres in ansteckender Weise Spaß!
Recht überschaubare Besucherzahlen konnte man an den ersten vier Abenden dieses Festivals zuerst im Berghain, dann im Radialsystem und zuletzt in einer Schöneberger Galerie zählen: Und dann kann ich es mir nicht verkneifen, einen Komponisten zu fragen, ob Neue Musik möglicherweise doch – eine Art Getto ist. Und weil das Mikrofon aus ist, sagt er: eher ein Kleingärtnerverein. Nun ja: dieses klangreiche, energiegeladene Festival war in der ersten Woche so erfrischend, dass die Grenzen der kulturellen Laubenkolonie jetzt in der zweiten (ab Donnerstag) von beiden Seiten aus mit einer radikalen Erwartung überschritten werden könnten:
Elke Moltrecht: "Viel Vergnügen!"

Das Festival "faithful! II" läuft noch bis zum 23. November 2014 in Berlin. Weitere Informationen auf der Webseite:www.faithful-festival.de

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