Neue Medien

Das Internet muss schuld sein ...

Ein Mann sitzt auf einem Stuhl, auf dessen Rückenlehne "Internet here!" steht, neben ihm ein identischer Stuhl und ein Computerbildschirm
Böses Internet, gute Realwelt? Der beschworene Gegensatz ist überhaupt nicht gegeben, sagt Bodo Morshäuser. © dpa/picture alliance/Maximilian Schönherr
Von Bodo Morshäuser · 29.10.2014
Im 18. Jahrhundert warnten selbsternannte Experten vor den Folgen der "Lesesucht". Der Untergang des Abendlandes blieb aber aus. Doch die absurde Angst vor neuen Kulturtechniken pflegen viele von uns auch heute noch, meint Bodo Morshäuser.
Die Kanzlerin nennt es "Neuland". Aber drei Viertel aller Deutschen benutzen das Internet. Jeder zweite tut es täglich. Einer davon bin ich.
Trotzdem lese ich jeden Tag, das Internet tue mir nicht gut, es sei der Ort des Bösen schlechthin. Warum eigentlich? 50 Millionen Autos gibt es in Deutschland. Jeder Deutsche benutzt den Straßenverkehr für seine Zwecke. Müssen die sich Ähnliches anhören?
Wobei - es wird schon unterschieden: Für den Arabischen Frühling sei das Netz eine gute Sache, hörte man vor zwei drei Jahren. Wegen dem IS und seiner Videos sei das Netz aber eine ganz schlechte Sache, hört man heute. Überhaupt: Videos heißen jetzt "Internet-Videos". Gewarnt wird vor dem "Internet-Buchhändler" und vor dem "Internet-Riesen". Wer das Netz lobt oder verteidigt, gilt als "Netz-Aktivist" oder als Angehöriger einer "Netz-Gemeinde", als wär's eine Sekte.
Verrohung der Sitten? Liegt am Internet
Völlig klar, was uns blüht: eine "Digitale Diktatur", und persönlich wird uns "Digitale Demenz" ereilen – um mal zwei Buchtitel zu nennen. Das Unbekannte muss schuld sein, wenn ich etwas nicht verstehe. Jugendgewalt? Das Internet ist schuld. Verrohung der Sitten? Liegt am Internet. Migranten können nicht gut deutsch? Liegt am Internet.
Sind denn 77 Prozent der Deutschen auf dem Weg der Verblödung, weil sie auch Netzbewohner sind? Oder sind unsere Mahner und Warner verrückt geworden?
Immer mehr Menschen nutzen Internet-Geschäftsmodelle und meiden traditionelle Arten der Information, Unterhaltung, Arbeit oder des Konsums. Internet-Horrorszenarien hört man meistens von denen, die an alten Geschäftsmodellen hängen und von der digitalen Welt keinen Nutzen haben.
Einerseits gibt es diese Überversorgung mit Horrorszenarien über das böse Internet. Ein Teil des Problems besteht darin, dass Printmedien nicht übers Netz berichten können, ohne an sich selbst zu denken. Sie sind beim Thema Internet nicht nur Informierende. Sie sind selber Teil der Information. Beim Thema Internet verfolgen sie vor allem die eigenen Ziele.
Kaum Informationen zu sicherem Surfen
Andererseits gibt es eine Unterversorgung mit Information, wie man sich sicher im Netz bewegt. Zwar kann ich jeden Tag lesen, wie böse das Internet ist, aber fast nie, wie man im Netz mit Java-Script umgehen sollte oder welcher E-Mail-Verschlüsselungstyp was leistet. Das entspricht ungefähr dem Wissen, mit welchen Reifen ich Auto fahre und wie mein Wohnungstürschloss beschaffen ist. Autofahrer kennen ihre Reifen. Jeder sorgt dafür, dass die Wohnungstür ein Schloss hat.
Seltsamerweise haben viele Computerkäufer den Anspruch, dass die neue Kiste vom Elektronikmarkt auf Knopfdruck sofort bietet, was es nirgendwo sonst gibt: das Produkt und den richtigen Gebrauch gleich dazu. Sie wollen nicht nur Zugang zum Netz, sondern gleich Datenschutz und Rundumsicherheit mitgeliefert bekommen, ohne etwas dafür zu tun. Das geht irgendwann schief. Und dann ist das Internet wieder das Böse. Unbegreifliches Neuland. Weil die Gier stärker war als der Verstand.
Kein Gegensatz zwischen virtueller und "realer" Welt
Lassen wir uns nichts vormachen: Der beschworene Gegensatz zwischen dem bösen Internet und der guten wirklichen Welt ist in der Realität kaum noch gegeben. Alle Zeitungs- und Buchverlage sind im Netz tätig und versuchen, dort ihre Marktanteile zu vermehren. Amazon ist einer der besten Kunden der Buchverlage. Deshalb hört man kaum einen Verlagsleiter über Amazon jammern. Das übernehmen die üblichen Mahner und Warner, die den kulturellen Untergang beklagen, der dann doch nicht eintritt.

Bodo Morshäuser wurde 1953 in Berlin geboren und lebt dort als Schriftsteller. Er hat etliche Romane, Gedichte und Erzählungen veröffentlicht, beispielsweise: "Und die Sonne scheint" (Hanani-Verlag) und "Beute machen" (Suhrkamp). Zudem beschäftigt er sich mit dem Thema Rechtsextremismus.


© M. Maurer
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