Neue Kraft fürs Leben

Von Andreas Boueke · 22.05.2010
Die katholische Kirche Lateinamerikas muss ihre Vormacht teilen mit anderen Kirchen, vor allem pfingstlich-charismatischen. Oft elende Lebensumstände verändern auch die Pfingstkirchen, die eigentlich ganz unpolitisch sein wollen. Wie die Pfingstler mit dem Erbe der Befreiungstheologie umgehen, zeigen wir am Beispiel Guatemalas.
Rocael Sabana: "Es gibt viele Probleme, aber wenn du hierher kommst, tanzen die Leute. Sie weinen. So erkennst du, dass es trotz all der Schwierigkeiten immer einen Gott gibt, der bereit ist, dir zu helfen."

Die charismatische Erweckungsbewegung der Pfingstler erlebt weltweit ein schnelleres Wachstum als jeder andere religiöse Sektor. In dem ehemals erzkatholischen Land Guatemala hat sich nahezu die Hälfte der Christen einer protestantischen Gemeinde angeschlossen. Der Bielefelder Religionssoziologe Professor Heinrich Schäfer beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Phänomen.

Heinrich Schäfer: "Also die sagen ihnen, der heilige Geist hat mir gezeigt, oder Gott hat zu mir gesprochen. Das ist ein neues Legitimationsmuster, das mit dieser Pfingstbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist."

In dem kleinen Innenhof der Kirche Beth Shalom, in der guatemaltekischen Stadt Mixco, kommen an jedem Abend der Woche rund 50 Gläubige zusammen. Pastor Daniel Gonzales hat die Kirche vor vier Jahren gegründet.

Daniel Gonzales: "Wir haben ein übernatürliches Wachstum erlebt. Es ist wirklich außergewöhnlich. Weshalb? Weil wir heute in einer schwierigen Welt leben, voller Gewalt. Die Statistiken der Gewalt und des Drogenmissbrauchs hier in Guatemala sind erschreckend. Es gibt soviel Böses. Deshalb hungern die Menschen nach einem Ort des Friedens, wo sie Beistand finden.

Zu uns kommen Leute, die sich gequält fühlen. Im Evangelium finden sie eine Antwort für ihr Leben, eine Botschaft, die direkt in ihr Herz geht. Es kommen Menschen, die Drogenjunkies waren, Auftragsmörder, Alkoholiker oder Prostituierte. In Christus haben sie eine Antwort gefunden."

Die globale Pfingstbewegung ist bunt, zersplittert, dynamisch, laut. Sie hat keine Hierarchieebenen, die einzelnen Gemeinden Vorschriften machen könnten. Jeder Gläubige hat die Möglichkeit, seine eigene Kirche zu gründen und mit Gleichgesinnten so zu arbeiten, wie es seinen Vorstellungen vom Willen Gottes entspricht.

Noch in den Achtzigerjahren war Guatemala zusammen mit seinen mittelamerikanischen Nachbarländern Nicaragua und El Salvador, eine Hochburg der katholischen Befreiungstheologie. Progressive Priester predigten, die Kirche solle sich auf die Seite der armen Bevölkerungsmehrheit stellen. Seither ist die Befreiungstheologie aus der Mode gekommen. Professor Heinrich Schäfer glaubt, in Mittelamerika habe die Gewalt der Bürgerkriege das Ende ihrer Ausbreitung eingeläutet.

Heinrich Schäfer: "Guatemala ist ja nun ein Fall wo Befreiungstheologie wirklich ausgerottet worden ist. In den Achtzigerjahren sind ... im gesamten Hochland irrwitzig viele Leute gezielt und brutal massakriert worden. Also gezielt sind katholische Katecheten verfolgt worden, engagierte Gemeindemitglieder. Und das hat natürlich auf die Bevölkerung genau den Effekt gehabt, der in den militärischen Handbüchern dafür vorgesehen ist, nämlich einen Terroreffekt. Die haben sich dann zurückgezogen aus der katholischen Kirchen und haben dann andere Wege gesucht, wie sie sich engagieren können."

Neue kirchliche Gruppen traten auf den Plan, Protestanten. In vielen Gegenden gab es dringenden Bedarf für seelsorgerische Arbeit. Der nahmen sich die Pfingstler gerne an.

Heinrich Schäfer: "Die haben den Menschen, die von Gewalt betroffen waren, schlicht die Welt besser erklärt. Wenn sie keine Chance mehr haben zu handeln, wenn ihnen wirklich nachts die Tür eingetreten wird, der Schwager wird aus dem Bett geholt, dem schneiden die Soldaten seine Kehle durch und lassen den im Straßengraben liegen, sie können ihre Kinder nicht zur Schule schicken ... und sie haben keinerlei Handlungsmöglichkeiten mehr.

Und dann kommt jemand daher und sagt ihnen, sie müssen sich politisch engagieren, Mann. Das Reich Gottes wird anbrechen und wenn sie sich jetzt mit der Guerilla dafür einsetzen, dann machen wir Revolution, das Reich Gottes auf Erden, dann sagen sie: 'Hier, sie ticken ja nicht ganz richtig. Hier gibt's nichts mit Reich Gottes. Hier wird gestorben.'

Das wäre Theologie der Befreiung. Dann kommt ein Pfingstler daher und der sagt: 'Ja, das ist doch klar. Wir sind am Ende der Zeiten und am Ende der Zeiten herrscht der Antichrist. Und da werden erstmal alle tot gemacht. Da wird genau das passieren, was jetzt passiert ... und das Einzige, was sie machen können - kommen sie heute Abend in meine Kirche. Wir bereiten uns vor auf die Wiederkunft des Herrn.' Und dann geht der dahin in die Kirche und dann merkt der, dass in dem ganzen Wahnsinn ein paar Leute fröhlich singen. Das findet er schon mal gut, weil der damit 'ne Abwechslung hat gegenüber der vollkommenen Hoffnungslosigkeit im Alltag."

Zudem haben sich viele Befreiungstheologen in der Auseinandersetzung mit dem Vatikan aufgerieben oder sie wurden vom Papst kaltgestellt. Die Pfingstler haben es leichter. Sie brauchen sich nicht darüber zu streiten, ob ihre theologische Lehre oder ihr gesellschaftliches Handeln von höheren kirchlichen Instanzen anerkannt wird oder nicht. Sie können ungehindert agieren.

Heute tun sie das nicht selten durchaus auch im Sinne der Befreiungstheologie. Der Pastor Carlos Morales zum Beispiel möchte, dass sich seine Kirche primär um diejenigen Menschen kümmert, die am Rand der Gesellschaft leben.

Carlos Morales: "Sie sollen würdevollen Wohnraum haben, in dem sie nicht auf der Erde schlafen. Es soll zumindest einen ordentlichen Fußboden geben und Toiletten. Die Kinder sollen in die Schule gehen können, und es soll Arbeit geben, für die ein angemessener Lohn gezahlt wird. Die Leute sollen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung haben.

Sie sollen sich kleiden können, mit Schuhen. Früher hat man versucht, diese Veränderungen mit Waffen durchzusetzen. Aber es hat nicht funktioniert. Ich glaube, dass die Kirche diese Veränderungen erreichen wird, durch Gottes Wort und durch das Evangelium von Jesus Cristus."

Für einen Teil der Pfingstler wirkt die Gemeinschaftserfahrung in ihren kleinen, autonomen Gemeinden nicht nur motivierend, sondern auch demokratisierend. Manche arbeiten innerhalb der Kirche Finanzpläne aus, andere setzen Projekte um. Sie lernen, ihre Meinung zu äußern, Konsens zu finden, in der Öffentlichkeit zu sprechen.

Solche Erfahrungen können ein mindestens ebenso emanzipatorisches Potenzial entfalten wie einstmals die revolutionäre Botschaft der katholischen Befreiungstheologie. Doch kommt es nur in einem Teil der Erweckungsbewegung zu solchen Entwicklungen. Ein Großteil der Pfingstkrichen verteufeln weiterhin die Bestrebungen der Volksbewegung um soziale Gerechtigkeit. Auch in Guatemala, einem Land in dem zwei Drittel der Bevölkerung in Armut lebt, gilt für sie das Gebot der Unterwerfung unter die von Gott eingesetzten weltlichen Autoritäten.