Neu im Kino

Fesselndes Drama einer Annäherung

Das Barrio "23 de Enero" ist eine Hochburg der Chavisten.
Slum in Venezuela: Schauplatz von "Caracas, eine Liebe" © Lukasz Tomaszewski
Von Christian Berndt · 25.06.2016
Mit seinem ersten Kinofilm hat Regisseur Lorenzo Vigas in Venedig den Goldenen Löwen geholt. "Caracas, eine Liebe" erzählt vom Überlebenskampf auf der Straße und von einer zärtlichen Annäherung. Das fesselnde Drama ist einer der Kinostarts der Woche.
China im 9. Jahrhundert. Die Tang-Dynastie liegt in den letzten Zügen, die Macht der kaiserlichen Zentralregierung ist bedroht von ehrgeizigen Militärgouverneuren. Mitten in diese politischen Wirren ist die junge Nie geraten. Als Kind wurde die Generalstochter Opfer von Palastintrigen und in ein Kloster verbannt – allerdings hat man sie dort zur Kämpferin ausgebildet, nun ist sie eine Auftragskillerin. Als sie den aufsässigen Gouverneur Tian töten soll, wird es für Nie heikel, denn einst war sie Tian als Ehefrau versprochen. Kaltblütig nimmt sie den Kampf mit der gesamten Palastwache des Gouverneurs auf.
Der taiwanesische Arthouse-Regisseur Hou Hsiao Hsien, der zu den einflussreichsten Filmemachern der Gegenwart zählt, hat mit "The Assassin" seinen ersten Martial-Arts-Film gedreht – allerdings in dem ihm eigenen Stil. Mit langen Einstellungen, die detailliert den historischen Alltag beschreiben, entwirft Hou ebenso malerische wie realistische, szenische Tableaus und bebildert eine aus einer Blütezeit mittelalterlicher, chinesischer Poesie stammende Erzählung, in der es um den Konflikt zwischen Pflicht und Liebe geht. Nie ist zur perfekten Tötungsmaschine ausgebildet worden, aber ihre Gefühle für Tian stehen dem Mordauftrag im Wege. Wie Hou mit einer Spannung aus erzählerischem Minimalismus und bildkompositorischer Gewalt dieses Zeitalter des Umbruchs skizziert, zeigte eine Inszenierungskunst, die ihm in Cannes den Regiepreis eingebracht hat.

Eine unnachahmliche Penélope Cruz

Eine kämpferische Frau steht auch im Zentrum des spanischen Films "Ma Ma". Magda hat nicht nur ihren Job verloren und wurde gerade von ihrem Mann wegen einer Studentin verlassen, jetzt bekommt sie auch noch eine niederschmetternde Diagnose:
"Es handelt sich bei beiden Knoten um Karzinome."
"Ich hab es doch gewusst. Vorhin beim Friseur habe ich mir vorgestellt, dass Sie mir sagen, ich hätte Krebs und Sie müssten mir die Brust amputieren, müssen Sie doch oder?"
"Mit Amputieren ist das Entfernen von Gliedmaßen gemeint, von einem Arm oder Bein."
"Na klar, mir ist das Abschneiden von einer Brust lieber als eines Beines."
Ihren Humor verliert die temperamentvolle Magda, unnachahmlich gespielt von Penélope Cruz, nicht so schnell, ihre Kraft braucht sie schließlich noch für ihren Sohn. Und dann lernt sie einen Mann kennen, der gerade seine Familie verloren hat – auch mit dem Arzt kommt sie näher in Kontakt, sodass sich irgendwann eine interessante Dreiecksgeschichte herauskristallisiert. Von der gegenwärtigen Welle von Filmen über krebskranke Frauen hebt sich "Ma Ma" von Julio Medem wohltuend ab. Denn hier wird endlich mal nicht die übliche Figurenkonstellation – rührende Kinder, bunte Freundesschar, überforderter Ehemann – abgehandelt. Zwar entwickelt sich seine utopische Beziehungskonstruktion irgendwann zu wohlgefällig, trotzdem folgt Medem einem unkonventionellen Ansatz, wie man ihn so erfrischend bei dieser heiklen Thematik lange nicht im Kino erleben durfte.

Die schmutzige Welt der Straße

Vom alltäglichen Überlebenskampf auf der Straße handelt der venezolanische Film "Caracas, eine Liebe". Der wohlhabende Armando ist ein verschlossener Einzelgänger. Er spricht auf der Straße junge Männer an und ködert sie mit Geld in seine Wohnung. Er will allerdings keinen Sex, sondern nur die nackten Körper der Straßenjungs anschauen. Bis er eines Tages den 19-jährigen, aggressiven Elder mitnimmt:
"Dreh Dich um und zieh Dein Hemd aus."
"Gib mir das Geld, dann mach ich es."
"Du ziehst erst das Hemd aus, dann bekommst Du das Geld."
"Du kannst mich mal, alte Schwuchtel, jetzt gib mir die Kohle. (Schlag) Drecksschwuler!"
Elder schlägt Armando nieder und haut mit dem Geld ab. Aber Armando spricht ihn erneut auf der Straße an. Und als Elder von einer verfeindeten Gang halbtot geschlagen wird, pflegt Armando ihn bei sich zuhause. Regisseur Lorenzo Vigas erzählt in seinem in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämierten Spielfilmdebüt von einer brutal-zärtlichen Annährung. Armando scheint zunächst sadomasochistische Züge mit Elder ausleben zu wollen, dann entwickelt sich zwischen beiden vorsichtig eine emotionale Beziehung – und Elder will irgendwann mehr. Aber Armando, in dessen Gesprächen mit der Schwester eine tiefe familiäre Traumatisierung rauszuhören ist, hat zu sehr mit dem Leben abgeschlossen, um sich zu öffnen. Das zeigt Vigas mit dokumentarischem Gespür für die schmutzige Welt der Straße und glaubwürdigen Figuren – Elder wird von einem Laien aus den Slums gespielt. "Caracas, eine Liebe" wird so zur deftigen Zustandsbeschreibung über die Begegnung zweier Versehrter, die ihr Thema nur andeutungsweise entblößt, aber damit umso fesselnder nachwirkt.
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