Neu im Kino

Eine Reise ins Innere

Von Hannelore Heider  · 26.03.2014
Die Wissenschaftlerin Nelly, gespielt von Jördis Triebel, will mit ihrem Sohn weg aus der DDR, die sie mit Überwachung und Unterdrückung verbindet. Als sie im westlichen Aufnahmelager von einem CIA-Offizier verhört wird, ist sie empört und die Flucht wird zu einem Kampf um Hoffnung und Neubeginn.
Nelly Senff (Jöris Triebel) hat es geschafft. Dank eines fiktiven Ehemannes und zwei langen Jahren, die sie als Hilfskraft auf dem Friedhof arbeitete, ist die promovierte DDR-Wissenschaftlerin mit ihrem neunjährigen Sohn Alexej (Tristan Göbel) im Westen angekommen. Die Strafarbeit im Osten als Folge eines Ausreiseantrags war ebenso gängiges Prozedere wie auf der anderen Seite die Einweisung der "Flüchtlinge“ in ein Aufnahmelager. "Niemandsland“ oder "Twiligth Zone“ nennt man das heute reißerisch.
In Christian Schwochows Film ist es eine ganz unspektakuläre, aber intensive Prüfung über lange Wochen oder Monate hinweg. Das hängt ganz von dem Flüchtling ab, der 12 Stempel ergattern muss, und den einen oder anderen gibt es erst, wenn westliche Geheimdienste überzeugende Antworten auf ihre Fragen bekommen. Hier ist es ein CIA-Offizier (Jackie Ido), der Nelly ihre lapidare Antwort, aus ganz persönlichen Gründen die DDR verlassen zu haben, nicht abnimmt. Nelly besteht auf ihrem Persönlichkeitsrecht, ist empört über die "Verhöre“, denen sie ja gerade entkommen wollte, und muss sich doch der Tatsache stellen, dass sie in diesem hochpolitisierten Umfeld auch die Repräsentantin eines Systems ist, das sie hinter sich lassen wollte.
Hintergrund des Misstrauens
Die Prüfung wird zu einer Reise ins Innere, zu einem Kampf um Hoffnung und Neubeginn. Denn Hintergrund all des Misstrauens in Ost wie West ist der geheimnisvoll bleibende Tod ihres Lebensgefährten und Vaters ihres Sohnes. Wassilij war Bürger der Sowjetunion und verdächtig, eventuell sogar als Doppelspion für östliche wie westliche Geheimdienst gearbeitet zu haben. Nelly sitzt fest, aus der ersehnten Freiheit und dem Neuanfang wird vorerst nichts. Sie muss sich in den Lageralltag fügen, in dem unter den aus vielfältigen Gründen hier Gestrandeten Misstrauen, aber auch Solidarität herrschen.
Christian Schwochows Film basiert auf dem Roman "Lagerfeuer“ von Julia Franck, die einst selbst als Kind einige Monate im Lager Berlin-Marienfelde gelebt hat, und auf einem Drehbuch, in dem seine Mutter, Helga Schwochow, ebenfalls persönliche Erfahrungen verarbeitete. In seinen Motiven hoch komplex, spannend und mit seiner intensiv spielenden Hauptdarstellerin Jördis Triebel, absolut glaubhaft, lässt er beim Zuschauer gar nicht erst das Gefühl aufkommen, eine der üblichen Ost-West-Geschichten zu sehen. Wie schon in der Fernsehadaption "Der Turm“ verletzt er weder im Ton noch in der Gefühlslage seiner Protagonisten die bei diesem Thema hoch sensiblen Antennen eines kritischen Zuschauers.

"Westen"
Regie: Christian Schwochow
Darsteller: Jördis Triebel, Alexander Scheer, Tristan Göbel, Jackie Ido
D 2013, 102 Minuten, ab 12 Jahren