Neu im Kino

Ein kleiner großer Mann

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Mr. May sorgt sich um die letzte Ruhe seiner Fälle. © © Piffl Medien
Von Hans-Ulrich Pönack · 03.09.2014
Auf diesen Film hat unser Kritiker Hans-Ulrich Pönack lange gewartet: "Mr. May" ist herrlich britisches Kino mit Eddie Marsan in der Hauptrolle eines schrulligen Beamten - der Menschen beerdigt, die einsam gestorben sind.
Er zählt zu den überragenden britischen Charakter-Darstellern, fiel aber bislang eher in Nebenrollen auf: Eddie Marsan, 1968 im Osten von London geboren. Ein bärenstarker untersetzter Typ, der in jede Figur präsent wie charismatisch reinzuschlüpfen versteht.
In "Happy-Go-Lucky" war er 2008 der griesgrämig-hysterische Fahrlehrer Scott; in "Spurlos – Die Entführung der Alice Creed!, bei uns 2011 gleich im Heimkino herausgekommen, war er der diabolische Kriminelle Vic und in dem köstlich-scherzhaften Komödien-Horror "The World's End" mimte er den Jugendfreund-Trottel Peter Page. Eigentlich müsste man fast jeden seiner vielen Auftritte seit seinem Karrierestart erwähnen, denn dieser Eddie Marsan ist ein darstellerischer Gigant.
Jetzt bekommt er endlich seine große Bühne. In "Still Life", einer etwas älteren Produktion, die uns Gott sei Dank doch noch im Kino erreicht: Eddie Marsan als Mr. May, ein korrekt aussehender britischer Anzug-Bürger (mit Krawatte), eher unscheinbar, unauffällig und stets mit Aktentasche ummantelt.
Würdevoller Abschied
John May arbeitet in einem Londoner Bezirksamt, Abteilung Kundenservice. In einem kühl-sterilen kleinen untergeschossigen Büro, in dem sich zahlreiche Aktenregale befinden. Dort ist er zuständig für das Aufspüren von Angehörigen für Menschen, die allein verstorben sind. In den meisten Todesfällen stellt sich heraus, dass es keine Angehörigen gibt. Also legt Mr. May eine Akte an, arrangiert eine würdevolle Beerdigung, die er immer diskret begleitet. Er sorgt für die passende Abschiedsmusik und für die angemessene Grabrede des Pfarrers, die er selbst (nach den aufgefundenen Unterlagen) verfasst hat.
Mr. May hat viel zu tun. Was bis in sein Privatleben reicht, denn dort führt der Alleinlebende, der in einem ebenso kühl-sterilen Appartement wohnt, einen umfangreichen Bildband mit "seinen Toten". In das er sich ab und an abendlich vertieft, um ihrer zu gedenken. Dabei ist John May kein Spinner. Sondern ein Mensch, der es sich zur (Lebens-)Aufgabe gemacht, Mitmenschen würdevoll zu verabschieden, anonymen ein Erinnerungsgesicht zu geben. Mit Respekt und eben menschlicher Würde. Und mit den humanen Ritualen der Trauer.
Mr. May ist ein kleiner großer Mann, der nicht viele Worte sagt. Dafür sprechen seine interessierten Augen. Kurz, knapp, bündig. Verständlich. Selbstverständlich. Menschlich. Irgendwann aber ist Schluss. Nach 22 Amtsjahren und nach Meinung seines jungen Vorgesetzten. Der im Auftrage der Stadtverwaltung den Posten in der Ausführung von Mr. May für zu kostenintensiv hält. Sein Aufgabengebiet soll künftig moderner platziert werden.
Ein letzter Todesfall
Doch noch beschäftigt Mr. May ein letzter Todesfall. Ein Mann aus seiner unmittelbaren Wohnnachbarschaft weckt nochmals sein intensives Interesse, seinen korrekten Fleiß. Denn der Verstorbene scheint Anhang gehabt zu haben, Verwandte, die es nun schnellstens zu ermitteln gilt. Anlässlich dieser letzten Lebensspurensuche allerdings ergeben sich ungeahnte Erlebnisse für diesen akribischen, liebenswerten, warmherzigen, einfühlsamen Mr. John May.
Regisseur Uberto Pasolini, nicht mit Pier Paolo Pasolini verwandt, aber ein Neffe von Luchino Visconti, hat ein sehr stimmungspräsentes, schwarz-schönes und herrlich lakonisches britisches Seelen-Kino geschrieben und inszeniert. Mit ganz fein pointierten Zwischentönen, sowie einem köstlich-ironischen gesellschaftlichen Briten-Humor. Völlig unaufgeregt, in einer faszinierenden Ruhe, ohne zu deprimieren. Ganz im Gegenteil: mit sehr viel lächelnden Gefühlen inmitten einer außergewöhnlichen Stimmungslage. Samt einer ebenso schönen wie angenehm behutsam eingesetzten Begleitmusik von Oscar-Komponistin Rachel Portman ("Emma"), inmitten dieses tragikomischen Universums, in dem sich Eddie Marsan als John May wunderbar zurückhaltend wie körpersprachlich fantastisch bewegt. Es ist seine erste große und sehr bewegende komplette Performance. Er ist in jeder Szene mit dabei und präsentiert eine ungeheuer berührende Ausstrahlung und liebenswerte Kraft - und erinnert am Ende sogar insgesamt wie brillant an "The Tramp", den einzigartigen Charlie Chaplin.
Eine gefühlvoll ausbalancierte, fulminant großen Leinwandprächtigkeit in Sachen Menschlichkeit und Spaß.
"Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit" von Uberto Pasolini (Buch und Regie). Großbritannien / Italien 2012. Mit Eddie Marsan, Joanne Froggatt, Andrew Buchan. Laufzeit 92 Minuten).
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