Neu im Kino

Ehe als Psychospiel und ein grauenhaftes Utopia

Ben Affleck als Nick Dunne im Film "Gone Girl"
Ben Affleck als Nick Dunne im Film "Gone Girl" © picture alliance / dpa / Foto: Twentieth Century Fox
Von Hans-Ulrich Pönack · 01.10.2014
David Fincher, Regisseur von "Sieben" und "Fight Club", hat mit "Amy & Nick Dunne" erneut ein raffiniertes und verstörendes Beziehungsdrama abgeliefert. In "Hüter der Erinnerung" von Phillip Noyce hingegen leben wir in einer perfekten Welt ohne Krieg aber auch ohne Liebe.
"Gone Girl – Das Perfekte Opfer"
Mit ihrem dritten Roman "Gone Girl" kam ab 2012 der große Erfolg für die US-Schriftstellerin Gillian Flynn – auch in Deutschland. Ausgangspunkt: "Mörderische" Lügen und Unehrlichkeiten in einer Ehe. Die Schriftstellerin über ihre Roman-Motivation:
"Die Ehe ist wie ein langer Betrug, da Du anfangs bei Deiner Werbung nur Deine besten Seiten zeigst, während doch die Person, die Du heiratest, alles an Dir lieben soll – inklusive Deiner Warzen. Aber Dein Ehepartner sieht diese Warzen nicht wirklich, ehe die Beziehung tiefer und etwas entspannter wird."
Oder auch nicht.
Der Film: Amy & Nick Dunne. Schön, attraktiv, erfolgreich. Die Tochter eines Psychologen-Ehepaares hat die perfekte wie erfolgreiche Kind-Figur "Amazing Amy" erfunden und schreibt Persönlichkeitstests für Zeitschriften-Magazine. Nick ist als bodenständiger Journalist ordentlich tätig. Als die Wirtschaftskrise 2007 beide erreicht, sie aus ihren lukrativen Jobs entlassen werden und ihr hoher Lebensstandard einbricht, ziehen sie von New York in "seine Kleinstadt" nach Missouri, wo seine Mutter erkrankt ist und Nähe wie Pflege braucht.
Doch in der Enge einer überschaubaren Gemeinde fühlt sich Amy mehr und mehr unwohl. Ihr Geschenk zum fünfjährigen Hochzeitstag ist in Form einer brieflichen Schnitzeljagd angelegt, deren Stationen Begebenheiten aus der Zeit ihres Kennenlernens dokumentieren. Das Problem dabei – Amy ist verschwunden. Nach den Spuren im Ehe-Haus zu urteilen, keineswegs freiwillig. Möglicherweise eine Entführung. Wahrscheinlich aber ist auch die Annahme, dass Amy Dunne nicht mehr lebt. Nick gibt sich ahnungslos. Die Polizei ermittelt. Auch gegen ihn. Die Medien stürzen sich genüsslich auf spekulative Details. Während wir aus beider Sicht mehr und mehr erfahren. Und begreifen: Hier läuft ein ganz spezielles tückisches, manipulatives "Spiel" zwischen Frau und Mann ab.
David Fincher – Der Mann fürs Grobe
Regisseur David Fincher zählt seit den Neunzigern zu den bedeutendsten Hollywood-Regisseuren. Schuf Thriller-Meilensteine wie "Sieben" (1995), "Fight Club" (1999) und "Panic Room" (2002). Begeisterte mit dem großartigen Emotions-Drama "Der seltsame Fall des Benjamin Button" (2008). Danach folgten "The Social Network" (2010), die Story um die Facebook-Gründung, sowie "Verblendung", 2011, das US-Remake des ersten Teils der Millennium-Trilogie nach Stieg Larsson. Mit seinem 10. Kinofilm "Gone Girl" setzt er seine raffinierten, verstörenden "Spannungsarien" fort. Mit folgenden – ironisierten – Ergebnissen:
Heiraten ist eine höchst zweifelhafte Entscheidung.
Die Ehe ist ein ständiger Krieg um Macht und Verlieren.
Lebst du nicht anonym, sondern "öffentlich", ist der Einfluss der quoten-gierigen Boulevard-Meinungs-Medien enorm und geradezu eklig.
Sau-Kerl Mann ist immer eine schwanz-gesteuerte Type.
Die Frau als Lust-Hyäne ist listig, "Schrecken" zu inszenieren. Und wie!
Der zweifache "Oscar"-Preisträger Ben Affleck ("Good Will Hunting"; "Argo"), der kommende neue "Batma"“-Darsteller, gibt sich Mühe. Wirkt aber mitunter wie paralysiert. Und strahlt dabei längst nicht so viel Reiz aus wie Rosamund Pike (Bond-Girl in "Stirb an einem anderen Tag", kürzlich in "Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück"), die hier brilliert. Mit eleganter, tödlicher Präzision.
Regisseur Fincher sorgt fast zweieinhalb Stunden für exzellente Psycho-Thriller-Performance. Er ist und bleibt ein Regisseur für Must-See-Filme (= 4 PÖNIs).
"Gone Girl – Das Perfekte Opfer" von David Fincher (USA 2013/2014; B: Gillian Flynn, nach ihrem gleichnamigen Roman; K: Jeff Cronenweth; M: Trent Reznor, Atticus Ross; 145 Minuten)
"Hüter der Erinnerung - The Giver"
Wäre das nicht herrlich – oder furchtbar? Wir leben in einer Welt, in der alles "in Ordnung" ist. Schön aussieht. Sauber gekehrt ist. Probleme existieren nicht. Kriege sind unbekannt. Ebenso Armut und überhaupt Gewalt. Stattdessen leben die Menschen, die jeden Morgen eine Injektion "zu sich nehmen", unter einer gemachten Wohlfühl-Glocke. Ohne Persönlichkeit, ohne jedwede Individualität. Sie kennen weder Farben noch übermäßige Freude oder Gefühle wie Liebe, Zorn oder Trauer; alles ist und wirkt fein-grau. Genormt.
Irgendwann war es offensichtlich zu viel. Das mit dem Zerstören. Ressourcen radikal abbauen. Mit Krankheiten, Kriegen, Verwüstungen. Dem Vernichten des Anständigen. Die neu geschaffene Welt hat damit aufgeräumt. Hat alle Erinnerungen ausgelöscht. Gedanken an ein Gestern und Vorgestern, an die Historie, an das Private, existieren nicht. Ein "Rat der Älteren" bestimmt über Sein und Existieren; von Anfang bis Ende.
Jeff Briges weiß Bescheid
Einer aber weiß Bescheid. Genannt: "Der Hüter der Erinnerung" (Jeff Bridges . Er besitzt als Einziger das gesamte Wissen der Menschheit. Er ist Berater des Rates. Mit der maliziösen Hologramm-Chefin (Meryl Streep: "Wenn Menschen frei entscheiden, entscheiden sie falsch. Jedes Mal"). Als sein Nachfolger wird gerade Jonas (Brenton Thwaites) inthronisiert. Ein intelligenter, sensibler Bursche. Der die "Ausbildung" durch den Noch-Amtsinhaber jedoch kaum verkraftet. Trifft er doch plötzlich wie wuchtig auf solch unbekannte Motive wie Liebe, Familie, Nähe, aber auch Krieg, Verderben, barbarischer Tod. Begegnet einer ganz anderen Welt.
Völlig unvollkommen. Voller Schönheit wie Aggressionen; voller Zuneigung und Hass. Voller Vergnügen und Schmerz. Voller Spaß und Trauer. Voller Enthusiasmus. Die Aufklärung macht Jonas mehr und mehr "süchtig". Und gefährlich. Für das System. Zumal er – das erste Mal in seinem Leben – Zuneigung empfindet. Ein Rebell erwacht. Das ist ein philosophischer Fiction-Thriller. In einer Art klaustrophobischer Baukasten-Architektonik aufgemöbelt, die Enge signalisiert.
Der australisch-stämmige Regisseur Phillip Noyce, der sich mit Filmen wie "Todesstille" (1989/mit Nicole Kidman), "Die Stunde der Patrioten" (1992/mit Harrison Ford), "Der stille Amerikaner" (2002/mit Michael Caine) und natürlich mit dem Blockbuster "Salt" (2010/mit Angelina Jolie) einen hervorragenden Branchen-Namen als Genre-Experte gemacht hat, benötigt eine (anfangs schwarz-weiße) Weile, bevor er in das gesellschaftspolitische Thema hineinfindet: Der "gecoachte" Mensch. Der geführt, gelenkt und fremdbestimmt sein - und bleiben – soll. Freiheitlicher Zwang für die Masse der Untertanen. Die Elite wird's schon wohlgefällig richten. Warum sich Gedanken machen? Gar aufregen? Nicht wahr, fragt dieser Streifen listig. "Hüter der Erinnerung" liefert als unterhaltsamer Hollywood-Streich erfreulich viel Nachdenkliches (= 3 PÖNIs).

"Hüter der Erinnerung - The Giver" von Phillip Noyce
(USA 2013/2014; B: Michael Mitnick, Robert B. Weide; K: Ross Emery; M: Marco Beltrami; 97 Minuten)