Neu aufpolierte alte Klänge

Von Frieder Reininghaus · 10.07.2011
Mozart, Händel oder Schostakowitsch: Bernard Foccroulle, der Direktor des Festivals in Aix-en-Provence, betreibt Traditionspflege mit historischer Aufführungspraxis - und schafft so Gegenwelten zu den Niederungen des Alltags.
Der einhelligen Resonanz nach zu schließen, hat es Bernard Foccroulle, der Direktor des Festivals in Aix-en-Provence, den geladenen und auch den zahlenden Sommergästen auch in diesem Sommer recht gemacht. Dabei kann der Intendant von Glück sagen, dass die ohne opulente Kulisse, personenbezogen exakt inszenierte und vom Mozart-Experten Louis Langrée sachlich-zügig interpretierte "Traviata" zu Beginn ebenso goutiert wurde wie die Uraufführung von Oscar Bianchis "Thank to my Eyes" als Amuse gueule.

Im Hauptfeld der Festspiele fand Traditionspflege mit historischer Aufführungspraxis statt. Zuvorderst mit Wolfgang A. Mozarts "La clemenza di Tito", bei der Sir Colin Davis den Londoner Symphonikern präsidierte und David McVicar mit einer wuchtigen Holztreppe an die Beschwörung von Palastintrigen durch den Habsburger Hofdichter Pietro Metastasio erinnerte. Das war gleichsam Pasta – die 'Sättigungsbeilage' des Menüs. Die Art und Weise, wie Musik und Szene gestaltet wurden, war 40 oder 50 Jahre zurück hinter dem, was sinnvoll und möglich ist – also: so "historisch" wie anachronistisch. Carmen Ginnastasio, Stimme der intriganten Vitellia, schlug gelegentlich so unbarmherzig zu, als wäre sie eine Wagner entlaufene Walküre. Der Regisseur jagte immer wieder schwertbewehrte Wachmänner eine sperrige Sperrholztreppe hinauf, als sollten die Ghibellinen Pisa erobern. Da schlägt dann das intendiert Erhabene ins Lächerliche um, aber niemand ist amüsiert.

Als Hauptgang das Fleischgericht: Dmitri Schostakowitschs Gogol-Adaption "Die Nase” (1930) in Zusammenwirken mit der Opéra de Lyon und deren langjährigem Dirigenten Kazushi Ono, inszeniert im Grand Théâtre de Provence vom künstlerischen Multi-Talent William Kentridge. Die Produktion war in jeder Hinsicht von Turbulenz geprägt, szenischer und musikalischer Überdruck in einer mit historischen Versatzstücken spielenden Inszenierung. Kentridge zitierte dabei die revolutionäre Fotografie, Presse und Bildende Kunst der Petersburger 1920er-Jahre herbei. Die möglichen Intentionen des Komponisten (nämlich: eine neue Spießerkaste im Gewand einer surrealen alten Geschichte aufs Korn zu nehmen), wurden links liegen gelassen (wiewohl auch heute das eigentlich Reizvolle). Aber ohne roten Pfeffer bleibt auch die salzarm gegarte Nase für ein Publikum in Urlaubsstimmung leichter goutierbar.

Als Dessert im Grünen wurde Georg Friedrich Händels "Acis and Galtea" von Leonardo García-Alarcon und Saburo Teshigawara den Schmeckleckern serviert. Die umgebaute Außenspielstätte Grand Saint-Jean gewährt jetzt Aussicht auf die nach Westen führende Allee, ein dichteres Gehölz und eine solistische gewaltige Eiche über den Sumpfwiesen der ehemaligen Schäferei. In der Abenddämmerung versank die frührokoköse Schäferidylle vom hannoveranisch-englischen Königshof wie in einem riesigen Bild von Claude Lorrain. Die unverstellte Schönheit hatte einen gewissen Preis: Ordnungskräfte mussten die Wohnwagen einer vom Präsidenten der Republik nicht geliebten Personengruppe vertreiben (aber die Festspielbesucher dürften von dieser unschönen Randerscheinung höchstens aus der örtlichen Presse erfahren haben).

Teshigawara ließ es bei etwas Gestrüpp auf der Plattform über dem kleinen Orchestergraben bewenden, in dem sich der aus lauter Liebe unaufmerksame Schäfer Acis, Nympheriche und weibliche Sumpfgöttlichkeiten verstecken können. Die vom Ausdruckstanz der 20er-Jahre inspirierten Bewegungen der Arme und Hände bedeuten gewiss so etwas wie historische Aufführungspraxis; ganz apart, dass er durch göttliche Gnade in einen Fluss verwandelte Acis am Ende irgendwie unbemerkt an einen Wasserhahn angeschlossen wird und aus den Ärmeln mehrere Fässer Wasser ins Gras auf der Bühne laufen lässt (da muss man morgen schon nicht sprengen!).

Die Instrumente, deren Eifern Leonardo García-Alarcon anleitete, als wolle er einem "spätromantischen Werk zu expressivem Ausdruck verhelfen, erscheinen recht neu und modern hergestellt: unter Einsatz elektronischer Messgeräte so zugesägt und gebohrt, dass ihr Ton jene feinen Schwebungen entfaltet, die die Kundschaft an ein angeblich besseres Früher denken lässt. In Hinsicht auf diesen Theatertricks war die Produktion ganz auf der Höhe der Zeit. Und natürlich bezüglich der zentralen Botschaft: "Happy, happy ... "

Im Dunkel der neu aufpolierten alten Klänge und der reaktivierten Naturschönheit versankt auch das nordwestlich von Grand Saint-Jean gelegene Wäldchen, in dem Irma Reyboud aus Motte d'Aigues 1944 von der Gestapo füsiliert wurde (gleicher Jahrgang wie mein Vater); ihr widerfuhr nicht die Gnade, die Acis zuteil wurde: Kein ewiges Leben als lebendig fließendes Element, sondern vermodert unter einem verwitternden Stein.

Wahrscheinlich ist es nur bedingt ein Vergnügen, den uneinheitlichen Erwartungen der Politiker, Sponsoren, Fördermitglieder und der Presse, den divergierenden Einreden und Pressionen nachzukommen, denen die Manager der großen europäischen Festivals ausgesetzt sind (Peter Ruzicka, Intendant in Salzburg 2002–06, beschreibt dies anschaulich in der neuen Ausgabe der ÖMZ). Der belgische Barockorganist Bernard Foccroulle, der seit 2007 in Aix verantwortlich ist, spielt virtuos auch auf der Tastatur der großen Beschwichtigung und registriert die Seh- und Hörerwartungen ausgewogen. Er markiert einen Gegenpol zu dem, was in Mitteleuropa für zeitgenössisch angemessenes Musiktheater gehalten wird: musikalisch verschiedenen Trends folgend, optisch ruhig und schön angelegt – und dezidiert als allemal historische oder sonstwie ferngerückte Gegenwelten zu den Niederungen des Alltags.