Netze zerreißen

Von Ulrich Fischer · 26.04.2011
Nicht eine große Tanzcompany, sondern eine jugendliche Produktion zum Motto "Wahrheit und Schönheit" eröffnete die bis 29. Mai laufende <em>Movimentos</em>-Festwochen in Wolfsburg. Die riskante Rechnung ging glänzend auf.
Das Programm der Movimentos kann sich insgesamt sehen lassen: Lesungen und Theater mit Schauspielern, deren Namen weithin klingen, Tanz von Weltformat. Dennoch bekommt die Movimentos-Akademie den prestigeträchtigen Auftakt-Termin. Die"Kreativdirektorin der Autostadt GmbH und künstlerische Leiterin der Movimentos-Festwochen" (Volkswagen liebt pompöse Titel, wie die Araber, je länger, desto vornehmer) Maria Schneider begründet ihre Entscheidung:

"Es mag ungewöhnlich sein, das Festival nicht mit der Vorstellung einer großen Company zu eröffnen, aber wir sind der Überzeugung, dass die Movimentos-Akademie diese Aufmerksamkeit verdient und braucht. Es ist fantastisch, was die Kinder und Jugendlichen in nur sechs Monaten auf die Beine stellen. Für das diesjährige Thema Wahrheit und Schönheit haben sie ungewöhnlich schnell ein Gespür entwickelt und sich intuitiv eingearbeitet. Entstanden ist eine komplette Tanzproduktion für die große Bühne – das verdient großen Respekt."

Die großzügige Entscheidung hat sich glänzend bewährt. "Ich und auch nicht" nennt die Movimentos-Akademie ihren Tanzabend, den sie am Dienstag in Wolfsburgs Theater uraufführte. Die Akademie bestand in diesem Jahr aus 100 jungen Leuten zwischen acht und 19 Jahren. Sie stellten sich der von Schneider gestellten Aufgabe, innerhalb von sechs Monaten einen Tanzabend zum Thema "Wahrheit und Schönheit" auf die Beine zu stellen – und landeten bei Fragen um die eigene Identität; deshalb: "Ich und auch nicht".

In einem der ersten Bilder ist ein junger Mann zu sehen, der versucht, sich mit sich selbst bekannt zu machen – wer ist er, wo ist er, wie weit reichen seine Kräfte? Dann taucht ein Mädchen auf – blitzschnell ändert sich die Haltung. Schon verwandelt sich der suchende Adoleszent in einen Hahn, er nimmt Imponiergehabe an und versucht, das Mädchen auf sich aufmerksam zu machen. Eine komische Szene, gut beobachtet.

Das "…und auch nicht" bezieht sich auf das Ich, wenn es nicht isoliert ist, sondern zusammen mit anderen. Da tanzen zum Beispiel ziemlich einheitlich einige Mädchen trauriggrau – nur eine scheint unbeschwert. Die anderen tragen eine Maske, die Züge der Unbeschwerten trägt: Da gibt es eine, die den Ton angibt, und die anderen folgen willig. Aber sie sind nicht so heiter wie ihr Vorbild, sie wirken gequält, nicht sie selbst. Eine Szene über falsche Vorbilder. – ein Schelm, wer dabei ans Kommerzfernsehen denkt.

Die Masken haben einige Schüler selbst entworfen und hergestellt – neben der Tanzklasse gab es noch eine Musikklasse, eine Bühnenbild- und eine Kostümklasse, sowie eben die Klasse für Masken. Sie wurden mehrfach eingesetzt. Einmal schoben sich die Tänzer ihre Masken in den Nacken – so schien es, als sei hinten vorn. Die Bewegungen wirkten verquert, verdreht – Zeichen starker Entfremdung.

Die beste Idee hat mit dem Weihnachtsmarkt zu tun. Nachdem ein Weihnachtsbaum verkauft worden ist, wird die Tanne durch einen Trichter gesteckt und mit einem Netz überzogen – damit man den Baum besser nach Haus tragen kann. Durch so einen Trichter müssen die Jungen und Mädchen, sie werden ins Netz gepackt – und dann sollen sie tanzen. Bestenfalls können sie noch hüpfen. So sind die Sozialisationsagenturen: ob Schule, ob Elternhaus, sie packen die Kinder ein und begrenzen ihre Freiheit. Aber die Szene geht gut aus: Die jungen Leute zerreißen die Netze!

Musik und Tanz finden gut zusammen in Wolfsburgs Theater, den Choreografen Philipp van der Heijden und Daniel Martins ist es gelungen, zusammen mit den anderen Klassenleitern Ideen der jungen Leute umzusetzen. Am besten ist die Ausstrahlung: jung, unbekümmert, heiter, trotz aller Kritik an der Lage der Jugend optimistisch. Es kommt nicht auf große Kunst an, auf genaueste Abstimmung, sondern darauf, die Kreativität (möglichst) aller zu entbinden und zu einem Tanzabend zusammenzuführen.

Das ist auch das Thema mehrerer Szenen am Schluss. Das Orchester macht Radau, und auf der Bühne laufen alle durcheinander: Die Atmosphäre eines chaotischen, ganz gewöhnlichen Schulpause kommt über die Rampe. So geht das nicht, meint einer der Kleinsten. Er hat die größte Schnauze, brüllt alle an, bis das Orchester ruhig ist und alle Tänzer auf dem Boden sitzen. Dann macht er Choreografie. Alle gucken zu, er tanzt mit einem Kollegen einen Pas de deux, wobei er dem Kameraden auch genau vorschreibt, was er tun soll. So stellt der kleine Napoleon sich Tanz vor. So sind sie, die Choreografen, Regisseure, Dirigenten und anderen Kunstgötter!

Und genau das soll es nicht sein – sondern alle sollen mitmachen. Der Abend mündet in eine utopische Szene: Jeder zeigt noch einmal, was er besonders gut kann, allein, zu zweit, mehrere – die anderen schauen zu und spenden Beifall. So sollte es sein – in der Kunst wie im Leben. Ein schöner Traum: "Ich und auch nicht".

Im Zuschauerraum saßen Kameraden, Eltern, Verwandte – der Applaus war unwolfsburgisch-afrikanisch. Er wollte nicht enden – voll verdient.

Veranstalter ist die "Autostadt" – eine Werbeplattform von Volkswagen. Schade, dass nicht das Theater diese Initiative auf die Beine stellte. Das Bedürfnis ist riesengroß wie das Talent der jungen Leute. Wenn das Theater diese Räume offen lässt, gibt es Unternehmen die Möglichkeit, sie zu besetzen. Gewinnorientierte Unternehmen gerieren sich gern als Wohltäter – gut fürs Image. Volkswagen wird einiges aufwenden müssen, um Hartz vergessen zu machen. Schade, dass die jungen Leute, nolens volens, dem Konzern dabei helfen.

Die Wahrheit ist selten schön. Aber das war ja auch ein Ergebnis von "Ich und auch nicht".

Homepage des Festivals Movimentos
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