Neoliberalismus im Theater

Klassengrenzen müssen überwunden werden

Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Der britische Drehbuchautor und Regisseur David Hare. © picture alliance / dpa / Claudio Onorati
Von Ulrich Fischer · 18.11.2014
"Behind the Beautiful Forevers" ist der neuste Streich des Dramatikers David Hare. Er bringt den gleichnamigen Roman über unmenschliche Klassengegensätze in Indien auf die Bühne. Brillant geschrieben, makellos aufgeführt.
David Hare, 1947 in Sussex geboren, ist Filmemacher, Drehbuchautor, Theaterregisseur, vor allem aber Dramatiker. Er ist politisch engagiert, seine Stücke sind gesellschafts-, oft auch systemkritisch. Sie werden in aller Welt, vor allem in englischsprechenden Ländern von namhaften Bühnen gespielt. Königin Elisabeth II. hat ihn zum Ritter geschlagen. Die Times rühmt Sir David als "Britain's leading contemporary playwright" - "Britanniens führenden zeitgenössischen Dramatiker".
Sein neues Stück heißt "Behind the Beautiful Forevers" - auf Deutsch vielleicht: "Hinter der Schönheit - für immer". Sir David hat das gleichnamige Buch von Katherine Boo für die Bühne bearbeitet. Es spielt 2008/09 in Indien, in Annawadi, einem Slum in Sichtweite von Mumbais internationalem Flughafen.
Unfassbare Armut
Abdul lebt dort mit seiner Familie. Er ist zwischen 15 und 19 Jahre alt, so genau weiß das niemand. Seine Eltern hatten wichtigeres zu tun, als sich um eine Geburtsurkunde zu bemühen - sie sind arme Leute. Abdul ist erfolgreich im Abfallgeschäft. Als Junge hat er Müll gesammelt, dann stieg er Dank seiner Intelligenz und seines Geschicks zum Zwischenhändler auf. Er kauft von einfachen Müllsammlern und verkauft an Großhändler. Abdul ist die Säule der Familie, wegen seines Erfolgs will und kann sich die Mutter eine Arbeitsfläche in der Küche der Hütte, in der die Familie haust, leisten. Dieser ungeheure Luxus ruft den Neid einer Nachbarin hervor - und damit beginnt die Katastrophe.
An den Haaren herbeigezogene Gründe führen dazu, dass Abdul im Gefängnis landet - zumal er als Moslem in einer von Hindus dominierten Gesellschaft von vornherein verdächtig ist. Abdul wird von der Polizei brutal geschlagen - es kostet, wenn er weniger häufig misshandelt werden soll. Die Polizei ist korrupt, das Gerichtswesen ist korrupt, die Zeugen sind korrupt. Wenn am Ende nach langen Jahren Abdul freigesprochen wird, ist die Familie längst ruiniert.
Klassengrenzen unüberwindbar
David Hare arbeitet klar heraus, dass der Neoliberalismus sein Versprechen nicht hält, dass jeder aufsteigen, sich von der Armut befreien kann. Die Armut ist eine Fessel, die immer die Gesundheit ruiniert, öfter das Leben kostet - das ist bei Abdul der Fall, aber auch bei all den anderen Figuren des Dramas. Es ist reich an Charakteren wie Geschichten. Alle Konflikte - die zwischen Muslimen und Hindus, die zwischen den Kasten, zwischen Mann und Frau - werden einem Hauptkonflikt untergeordnet, dem zwischen Arm und Reich. "Behind the Beautiful Forevers" ist eine Anklage, die Anklage, die David Hare schon als junger Dramatiker erhob: Die Klassengegensätze sind unmenschlich! Die Konsequent kann jeder selbst ziehen: Sie müssen überwunden werden, weil sie überwunden werden können.
Das beste Bild in diesem üppigen Stück bezeichnet die Grundsituation: Über Annawadi, dem Slum, dem elenden Armenviertel, fliegen, mit ohrenbetäubendem Lärm, Abgaswolken unter sich lassend, die riesigen Jets der Reichen hinweg. Gleichgültigkeit ist der Kern dieses zentralen Bildes, Gleichgültigkeit in des Wortes entsetzlichster Bedeutung.
Das Stück ist einfach besser
Rufus Norris führt Regie - der designierte Intendant des Royal National Theatres, des Flaggschiffs britischer Bühnen. Norris wird im Frühsommer nächsten Jahres Intendant, er gibt schon einmal seine Visitenkarte ab. Rufus Norris inszeniert ganz in der Tradition britischer Regisseure - er stellt sich in den Dienst des Dramatikers, seines Stücks, der Schauspieler und des Publikums. Norris breitet das Stück übersichtlich auf der riesigen Bühne aus - es wird im Großens Haus des Nationaltheaters, im Olivier, gespielt - und präpariert heraus: Du kannst klug und loyal sein wie Abdul, du kannst liebenswürdig und hilfsbereit sein, ehrlich, fleißig und idealistisch - es nützt nichts, du bis zum Scheitern verurteilt. Einmal arm, immer arm. Aber Norris bleibt mit seiner Inszenierung hinter dem Feuer der Anklage zurück, das Hare seinem Stück eingeschrieben hat. Das Stück ist besser als die Inszenierung, sie ist zu behäbig, mitunter bei folkloristisch anmutenden Szenen gar versöhnlich.
Das Ensemble spielt makellos. Shane Zaza verkörpert Abdul als netten, ja als mustergültigen jungen Mann - ihm fehlt nur eins: Die Einsicht, dass er den Aufstieg nicht schaffen kann. Eine Kritik des Systems liegt ihm fern, kann er nicht leisten. Lesen und Schreiben ist schon eine Kunst, die im Slum nur wenige beherrschen. Der Kritik des Schulsystems widmet David Hare einen eigenen (satirischen) Schwerpunkt.
Sir David hat seine schönsten Rollen für Frauen geschrieben - sie gelten ihm, wie George Bernard Shaw, als Verkörperungen des Fortschritts. Auch hier: Die Damen haben die besten, die ergiebigsten Rollen.
Ein wichtiges Sujet, ein inhaltlich wie formal glänzendes Stück, zugespitzte Dialoge: Sir David ist wieder einmal ein Meisterwerk gelungen. David Hare und sein Ensemble stellen sich in die gesellschaftskritische Tradition von Charles Dickens, Abdul ist ein literarischer Bruder von Oliver Twist und David Copperfield.
Eine Tradition, die in aller Welt bewundert wird.
Mehr zum Thema