Nellie Bly

In 72 Tagen um die Welt

Eine illuminierte Weltkugel ist am 29.05.2011 in Gelsenkirchen zu sehen.
Nellie Bly schaffte es in 72 Tagen um die Welt - und das recht gemütlich dank des Linienverkehrs. © picture alliance / dpa / Caroline Seidel
Von Ulrike Rückert · 14.11.2014
Nellie Bly wollte wie Jules Vernes Romanheld Phileas Fogg in weniger als 80 Tagen um die Welt reisen. Dafür musste die US-amerikanische Journalistin vor 125 Jahren nichts weiter tun, als nach Fahrplan verkehrende Dampfer und Züge zu besteigen. Dennoch war es ein Spektakel, das einen ganzen Kontinent in Atem hielt.
"Nellie Bly versucht beispiellosen Schnellreise-Rekord!"
"Am Donnerstag, dem 14. November 1889, um 9.40 Uhr startete ich zu meiner Reise um die Welt."
Das Schiffshorn ertönte, auf dem Pier im Hafen von New York flatterten die Taschentücher, und die "Augusta Victoria" dampfte auf's Meer hinaus.
"Wird sie den imaginären Rekord von 80 Tagen brechen? Nellie Bly als weiblicher Phileas Fogg!"
Diesen englischen Gentleman hatte Jules Verne 1872 auf eine "Reise um die Erde in 80 Tagen" geschickt, um eine Wette zu gewinnen und allerlei transporttechnische Abenteuer zu bestehen. Verne und die Leser seines Bestsellers waren fasziniert davon, dass immer schnellere Dampfer, ganze Kontinente überspannende Eisenbahnnetze und transozeanische Telegrafenkabel die Entfernungen scheinbar schrumpfen ließen. Nellie Bly trat also an, um einen Romanhelden zu schlagen. Die Starreporterin von Joseph Pulitzers "World" war mit spektakulären Undercover-Recherchen berühmt geworden: Sie hatte sich als Patientin in eine Irrenanstalt eingeschlichen, Babyhändler entlarvt und Korruption aufgedeckt. Das Wettrennen um die Welt war ein Publicity-Gag für die "World" - aber im Handumdrehen wurde es zum patriotischen Hype der aufstrebenden Nation.
"Vertreter der englischen Rasse geben exzellente Helden ab. Ich bewundere den Schneid der Nation, die den Union Jack auf so große Teile der Erdoberfläche gepflanzt hat, grenzenlos", schrieb Jules Verne zur Nationalität seines Romanhelden. Fast jeder Hafen, in dem Nellie Bly landete, gehörte zum britischen Empire. Ihre Börse war gefüllt mit Goldmünzen und Noten der Bank von England.
"Außerdem nahm ich auch etwas amerikanisches Geld mit, um in verschiedenen Häfen zu testen, ob es außerhalb von Amerika bekannt ist."
Bereit, die Zukunft zu erobern
Wie sie feststellte, wollte es niemand haben. Die Landsleute von Phileas Fogg beherrschten die Welt, aber Amerika war bereit, die Zukunft zu erobern, und Nellie Bly war die Vorhut: jung, energiegeladen - und weiblich.
"Sie ist ein normales amerikanisches Mädchen mit Selbstvertrauen und Mumm", versicherte die "World". Die moderne Amerikanerin schmiegte sich nicht an den Gatten wie ihre viktorianischen Schwestern, sie war selbstständig und unabhängig.
"Die meisten Frauen, deren Bekanntschaft ich machte, bewunderten die freie amerikanische Frau."
Das ganze Land fieberte mit, als Nellie Bly um den Globus hastete, in Frankreich rasch einen Abstecher machte, um mit Jules Verne auf ein Glas anzustoßen, dann mit dem Zug nach Italien brauste und durchs Mittelmeer, den Suezkanal und über die Ozeane schipperte. Amerika spielte Nellie Bly-Brettspiele, sammelte Nellie Bly-Sammelbildchen, tippte beim Nellie Bly-Preisausschreiben und trug Nellie Bly-Mützen.
Kollektiver Siegesrausch
Nellie Bly war für kurze Zeit die berühmteste Frau der Welt. Die Zeitschrift "Cosmopolitan" hatte ihre Feuilletonredakteurin Elizabeth Bisland mit ins Rennen geschickt, um von der Publicity zu profitieren.
Sie startete dennoch am selben Tag wie Nellie Bly, aber in Gegenrichtung. Kaum jemand nahm sie zur Kenntnis, und sie hatte keine Chance mehr, als sie in Frankreich den Dampfer verpasste. Nellie Bly, das "All-American Girl", schlug die "Southern Belle" und den britischen Roman-Gentleman mit Bravour. Ein kollektiver Siegesrausch empfing sie schon in San Francisco. Ihre Zugfahrt nach Osten war ein einziger Triumph, an den Bahnhöfen standen Menschenmengen in Sonntagskleidern.
"Glückwünsche, Früchte, Blumen, Hurrageschrei, Händeschütteln - es war herrlich!"
Nichts konnte sie mehr aufhalten - der schwerste Schneesturm seit Menschengedenken hörte vor ihr auf, eine Eisenbahnbrücke stürzte hinter ihr ein. Kanonenschüsse donnerten, als sie nach nur 72 Tagen, sechs Stunden und elf Minuten ins Ziel ging.
"Sie hat alle Rekorde gebrochen!", jubelte die "World" und verglich sie mit Magellan, Francis Drake und Captain Cook, obwohl sie nichts weiter getan hatte, als nach Fahrplan verkehrende Dampfer und Eisenbahnzüge zu besteigen. Aber symbolisch fügte ihr Sieg, so die "World" in hyperbolischer Begeisterung, einen weiteren Strahl zu dem großen Leuchtfeuer der amerikanischen Freiheit, das die Völker bei dem großen Marsch von Zivilisation und Fortschritt leitet."
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