Neel Mukherjee: "In anderen Herzen"

Blind für das Leid der Armen

Inderin vor ihrer Behausung in einem Slum von Kalkutta
Inderin vor ihrer Behausung in einem Slum von Kalkutta © dpa / picture alliance / Denis Meyer
Von Claudia Kramatschek · 07.05.2016
Ein schockierendes Buch, exquisit geschrieben: Der Roman "In anderen Herzen" handelt von der Dekadenz einer Gesellschaft, die sehenden Auges auf Kosten der Ärmsten lebt. Das Werk des Inders Neel Mukherjee spielt im Jahr 1969 in Westbengalen, zielt aber auf die Gegenwart.
Westbengalen ist seit Ende der 1960er-Jahre eine Hochburg der Kommunistischen Partei. Von 1977 bis 2011 regierte sie das indische Bundesland ununterbrochen. Doch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich konnten auch die Kommunisten nie besiegen. Im Gegenteil.
Illegale Landnahme durch großindustrielle Unternehmen wie Tata ist auch in Westbengalen an der Tagesordnung – seit mehreren Jahren machen in der Region deshalb die sogenannten Naxaliten mit gewaltsamen Aktionen auf das Los der entrechteten Armen aufmerksam. Indien brandmarkt die Naxaliten als moderne Terroristen – obwohl deren Kampf bereits 1969 begann.
In jenem Jahr wurde Kalkutta erstmals von massiven Unruhen heimgesucht: Eine radikale Gruppierung junger maoistischer Studenten hatte sich zum bewaffneten Kampf entschlossen und rief zu Streiks gegen Fabrik- und Großgrundbesitzer auf. Straßenschlachten entflammten, Menschen starben. Es war die Geburtsstunde der Naxaliten, die eine gerechtere Gesellschaft erwirken wollten.

Bankrott einer Unternehmerfamilie

1969 ist auch das Jahr, in dem Neel Mukherjees Roman angesiedelt ist. Im Mittelpunkt steht die Unternehmerfamilie Gosh, die hineingezogen wird in den Strudel der Ereignisse: Der älteste Enkel des Hauses hat sich den Naxaliten angeschlossen und ist auf dem Land abgetaucht. Sein Weggang markiert allerdings nur den Schlusspunkt eines Niedergangs, von dem das Haus schon lange heimgesucht worden ist: Der Bankrott droht, die Söhne streiten um das Erbe.
Doch Neel Mukherjee legt keine indische Familiensaga mit viel Herz und Schmerz vor. "In anderen Herzen" ist vielmehr das knallharte Porträt einer Gesellschaft, in der allein die Logik kapitalistischer Gier das Sagen hat, Moral und Mitgefühl für das Los der Armen dagegen nichts zählen. Das Haus der Ghosh steht somit für das große Ganze. Nicht zuletzt deshalb spürt der Autor den seelischen Verheerungen einer solchen Gesellschaft bis in die kleinsten Verästelungen seiner zahlreichen Figuren nach: Heimliche Liebschaften, dunkle Umtriebe, moralische Abgründe.

Ungeschöntes Bild vom Los der Bauern und Tagelöhner

Derweil vermitteln die Briefe, die der auf dem Land abgetauchte Enkel nach Hause schickt, ein ungeschöntes Bild: von den Lebensbedingungen der Bauern und Tagelöhner, von der rigiden staatlichen Gewalt, aber auch von den damaligen Machtkämpfen innerhalb der Kommunistischen Partei, die letztlich – so der Briefeschreiber – das Los der Bauern ebenfalls nur für die eigenen Ziele missbraucht. Im Haus der Gosh aber bleibt man dennoch blind für die Leiden "in anderen Herzen".
Dass sich daran nicht viel geändert hat, verdeutlicht unmissverständlich der Epilog des Romans. Wir springen vom Jahr 1969 in das Jahr 2012: Eine kleine Gruppe von Naxaliten bereitet einen Anschlag auf eine wichtige Bahnlinie vor. Ihre Anführerin: eine junge Frau, deren Familie man im Namen des Staates das Land wegnahm und die man vergewaltigte, als sie Anzeige erstattete bei der örtlichen Polizei.
"In anderen Herzen" ist also mitnichten ein Roman über eine historische Epoche der indischen Geschichte. Sein Kern zielt vielmehr auf die Gegenwart: die herzlose Dekadenz einer Gesellschaft, die sehenden Auges auf Kosten der Ärmsten lebt. Neel Mukherjee erzählt davon in einer erstaunlich eleganten Prosa. Just sein exquisiter Stil mehrt die Schlagkraft dieses schockierenden Romans.

Neel Mukherjee: In anderen Herzen
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Verlag Antje Kunstmann, München 2016
638 Seiten, 26 Euro

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