Nazi und Narziss

Peter Longerich im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 22.11.2010
Der NS-Chefpropagandist Joseph Goebbels litt an einer narzisstischen Störung. So urteilt der Historiker Peter Longerich in seiner neuen Goebbels-Biografie. Goebbels' Tagebücher hätten offenbart, dass er "in extremer Weise von Anerkennung durch andere abhängig gewesen ist und ganz speziell abhängig gewesen ist von der Anerkennung durch Adolf Hitler".
Klaus Pokatzky: Dr. Paul Joseph Goebbels gehörte nach Adolf Hitler und vielleicht noch neben Hermann Göring und Heinrich Himmler nun wahrlich zu den berühmtesten Gestalten des nationalsozialistischen Deutschland. Und neben Hitler ist er der wohl am meisten Erforschte und Beschriebene aus der NS-Führungsriege. "Narziss von Hitlers Gnaden" – so hat die Tageszeitung "Die Welt" den Chefpropagandisten der Nazis genannt, und zwar in einer Besprechung einer neuen Goebbels-Biografie. Geschrieben hat das Buch Peter Longerich, Professor für Neuere Geschichte in London. Guten Tag, Herr Longerich!

Peter Longerich: Guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Herr Longerich, Nazi und Narziss – war das das Besondere an Goebbels innerhalb der braunen Verbrecherbande?

Longerich: Na ja, wenn man sich Goebbels näher anschaut, dann hat er eine erhebliche Persönlichkeitsstörung gehabt, die man eben mit dem Begriff Narzissmuss erfasst. Er ist jemand gewesen, der in extremer Weise von Anerkennung durch andere abhängig gewesen ist und ganz speziell abhängig gewesen ist von der Anerkennung durch Adolf Hitler. Das kann man, wenn man seine Tagebücher liest, kann man dieses Thema verfolgen von der Mitte der 20er-Jahre bis zum Frühjahr 1945. Insofern ist er schon ein besonderer Fall.

Andere NS-Führer hatten ebenfalls bestimmte, sagen wir mal, Besonderheiten, charakterliche Besonderheiten, aber dieser extreme Fall von Abhängigkeit von Anerkennung durch andere, der ist wohl für Goebbels charakteristisch.

Pokatzky: Sie haben zuletzt eine Biografie über den Reichsführer-SS Heinrich Himmler veröffentlicht. Wenn wir jetzt mal Goebbels und Himmler gegenüberstellen: Was unterscheidet die beiden?

Longerich: Ja das sind eigentlich grundverschiedene Typen. Der Himmler ist jemand, der sehr in sich gekehrt war, im Grunde genommen versucht hat, seine Gefühle nicht zu zeigen, wenn er denn welche gehabt hat. Der Goebbels ist ein sehr nach außen gekehrter Mensch gewesen, der aus seinen Gefühlen kein Geheimnis gemacht hat, sondern der sie sogar überschwänglich nach außen kundgegeben hat.

Es gibt auch gewisse Gemeinsamkeiten zwischen beiden, zumindestens formal: Beide sind katholisch aufgewachsen, sind auch bis in ihre spätere Jugend hinein religiös gewesen, beide kommen aus, nun der eine aus einem großbürgerlichen, der aus einem kleinbürgerlichen Haushalt, und beide sind eigentlich gebildet, beide haben akademische Abschlüsse. Insofern gibt es da auch Parallelen.

Pokatzky: Was hat der katholische Glaube für Goebbels bedeutet, wie hat er ihn geprägt?

Longerich: Der katholische Glaube hat ihn natürlich sehr stark geprägt, man kann in seinen Tagebüchern sehen, dass er so etwa Mitte 20 große Glaubenszweifel hatte, und er ist auf der Suche gewesen nach einem Ersatz für diesen Glauben, und hat ihn letzten Endes in dieser völkischen Ideologie und in dieser Anhimmelung Hitlers gefunden. Sie können sehr gut in den Goebbels-Tagebüchern verfolgen, wie er auf der Suche nach einem Erlöser ist. Dieser Erlöser ist zunächst Jesus Christus und dann sucht er den weltlichen Erlöser, bis er dann schließlich bei Hitler landet. Also insofern spielt, dieser katholische Glauben als Antrieb sozusagen nach einer Sinnsuche spielt schon eine wesentliche Rolle in seinem Leben.

Pokatzky: Und dann später, als er nach dem 30. Januar 1933 Minister für Volksaufklärung und Propaganda geworden war und damit zur Spitze des NS-Regimes gehörte, ist er dann noch zur Kirche gegangen oder sogar zur Beichte?

Longerich: Nein, das nicht. Er hat den katholischen Glauben also im Grunde genommen abgeworfen, als er sich der NSDAP zugewandt hatte. Das war schon 1924. Im Übrigen wurde er auch durch die katholische Kirche von dem Empfang der Sakramente ausgeschlossen, und zwar deswegen, weil er in einer sogenannten Mischehe lebte, weil er eine Nichtkatholikin geheiratet hatte. Insofern hätte er das auch nicht ohne Weiteres machen können.

Pokatzky: Hatte Goebbels so etwas – wenn wir vom Katholizismus mal ausgehen –, was man wenigstens ansatzweise als ein Gewissen bezeichnen kann?

Longerich: Ich glaube eigentlich nicht. Am Anfang, in den frühen Jahren gibt es solche Spuren noch, aber ich denke, in dem Moment, wo er sich wirklich auf diese Karriere wirft, ist für ihn eines entscheidend: Das ist seine eigene Karriere. Dass er immer gut dasteht, das ist das Entscheidende für ihn und dem wird alles andere völlig untergeordnet. Ich hab mal das Wort Moral – ich hab eine elektronische Version des Tagebuchs benutzt –, das Wort Moral gesucht und bin da relativ selten fündig geworden, und das, wenn, nur dann in einem abwertenden Sinne.

Pokatzky: Wenn er in Hitler im Grunde so seinen neuen Gott gefunden hatte: Außer seinem Ehrgeiz, gab es weitere Antriebe?

Longerich: Diese Sucht nach Anerkennung, vermittelt durch sein Idol Hitler, das ist der ganz entscheidende Antrieb in seinem Leben gewesen. Wenn man sein Leben überblickt, kann ich nicht sehen, dass er, sagen wir mal, Ende der 20er-Jahre noch nachhaltig bestimmte eigene politische Konzepte verfolgt hätte, bestimmte politische Visionen. Er hat dies völlig seiner eigenen Erfolgsgeschichte untergeordnet.

Pokatzky: Ich spreche mit dem Historiker Peter Longerich über seine neue Goebbels-Biografie. Herr Longerich, alles, worüber wir jetzt gesprochen haben, ist nicht so wahnsinnig neu. Warum brauchen wir dafür eine neue Goebbels-Biografie?

Longerich: Ja, da bin ich nicht so sicher, dass das nicht so neu ist. Es gibt diese sehr ausführlichen Goebbels-Tagebücher, 29 Bände, und die sind erst vor vier Jahren vollständig in der edierten Form auf den Markt gekommen und da steht sehr viel drin, was man bisher so nicht wusste, vor allen Dingen im Zusammenhang nicht wusste. Ich denke, dass die, auch die Deutung Goebbels, die Deutung der Persönlichkeit, wenn man die bisherige Geschichtsschreibung sich ansieht, doch gewissen Schwankungen unterworfen war, dass es da gewisse Unsicherheiten gab, dass das Bild doch jetzt sehr viel klarer ist.

Außerdem geht es mir nicht nur um die Person Goebbels, sondern es geht mir vor allem darum, über die Person hinaus oder durch die Person hindurch diesen ganzen Bereich der Propaganda oder – wie ich das nennen würde – der gelenkten Öffentlichkeit im Dritten Reich näher zu durchleuchten. Und meine These ist, dass Goebbels keineswegs dieses großartige Propaganda-Genie gewesen ist, als das er sich selbst gerne dargestellt hat und als das ihn viele mit umgekehrtem Vorzeichen heute noch sehen wollen.

Pokatzky: Sondern, was war er? War er auch da ein Blender? Also er war ja nun doch zumindest ein guter PR-Mann, vielleicht war er kein guter Medien-Mann, aber war er nicht ein grandioser PR-Mann?

Longerich: Er war schon ein guter und geschickter Propaganda-Mann, das kann man überhaupt nicht bestreiten. Aber dieser große Erfolg, der ihm oft zugeschrieben wird – es gibt ja dieses Schlagwort von der Goebbels-Propaganda und wir kennen alle die Bilder von diesen verzückten Menschen, die in Extase geraten aufgrund seiner Reden und so weiter –, das sind für mich Produkte des Goebbelsschen Propaganda-Apparates. Das heißt, diese Bilder sind in seinem Ministerium hergestellt worden. Das heißt, er hat es verstanden, diese Propaganda als einen geschlossenen Kreislauf herzustellen, in dem der Erfolg gleich mitgeliefert wurde.

Wir dürfen uns nicht täuschen lassen über die Hinterlassenschaften aus seinem Propaganda-Apparat. Wir müssen sehr genau und sehr kritisch sehen, wie diese Propaganda hergestellt wurde, wie sie gemacht wurde, und es lässt sich in sehr vielen Fällen zeigen, dass die Menschen sich zwar so verhalten haben, wie das Regime das wollte, aber die Propaganda spielte dabei eigentlich eine untergeordnete Rolle.

Pokatzky: Hat Sie denn bei der Lektüre der nun inzwischen vollständig edierten Tagebücher, die ja Ihre Hauptquelle sind für Ihre Biografie, hat Sie da irgendetwas noch mal richtig überrascht?

Longerich: Ja, es gibt eine ganze Reihe von Dingen, nicht nur jetzt bezogen direkt auf Goebbels, sondern Sie müssen ja sehen, dass Goebbels eigentlich der wichtigste interne Chronist des Nationalsozialismus ist, der von 1925 bis 1945 sehr genau festgehalten hat, was in der Partei und was in dem Regime später vorgegangen ist ...

Pokatzky: ... 6783 handgeschriebene Blätter in 23 Kladden und 34.609 Seiten mit in großen Typen getippten täglichen Diktaten! Hunderte von Leitartikeln, Broschüren und Bücher!

Longerich: Ja, da gibt es noch Einiges zu entdecken und man kann es auch nicht auf den ersten Blick sehen, man muss also bestimmte Verbindungen herstellen, man muss auch bestimmte, die Art und Weise, wie er schreibt, wie er bestimmte Dinge, die eigentlich ganz wichtig sind, versucht tiefer zu hängen. Man muss so was durchschauen. Und ich hab eine Reihe von Beispielen, wo ich tatsächlich auch durch die Tagebücher etwas Neues gefunden habe.

Pokatzky: Was für mich neu war, war das von Ihnen beschriebene Dreiecksverhältnis zwischen Goebbels, Magda Goebbels, geschiedene Quandt, und Adolf Hitler. Gibt es da nur die Tagebücher als Beleg oder gibt es da weitere Belege? Und was war das für ein Dreiecksverhältnis?

Longerich: Na ja, die Tagebücher sind hier sehr eindeutig und es handelt sich eben um diese Tagebücher, die erst vor einigen Jahren tatsächlich ediert worden sind. Aus den Tagebüchern geht hervor, dass, als Joseph Goebbels Magda Quandt kennengelernt hat, sich Hitler ebenfalls für diese Frau interessierte und ihm dann schließlich in einem Gespräch unter Männern sozusagen sagte, dass er auf sie verzichten würde. Aber es geht aus dem Gesamtzusammenhang hervor, dass Hitler nach wie vor ein sehr enges Verhältnis zu beiden Goebbels hatte, und ich interpretiere das als ein Dreiecksverhältnis. Das heißt, er war so etwas wie ein Mitglied der Familie Goebbels.

Für mich ist das jetzt nicht so sehr wichtig. Schauen Sie, ich bin ein seriöser Historiker, weil ich nicht Schlafzimmergeschichten aus dem Dritten Reich erzählen will, sondern ...

Pokatzky: ... es klingt nach "Bild"-Zeitung ...

Longerich: ... sondern – es steht auch in dem Buch etwas darüber drin, das ist richtig –, aber es geht hier vor allen Dingen darum, dass dieser Mensch sein gesamtes Leben, also auch sein privates Leben, sein privatestes Leben dieser Beziehung zu Hitler untergeordnet hat. Das ist der entscheidende Punkt.

Und wenn Sie an das Ende denken, also das heißt ja Selbstmord und der Mord an seinen sechs Kindern in Berlin im Bunker Ende des Krieges, dann ist das sozusagen auch der Schlusspunkt, den er setzen wollte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass seine Familie, die auch gleichzeitig Hitlers Familie war, den Krieg überleben würde.

Pokatzky: Über Goebbels gibt es eine Fülle von Büchern. Alleine im letzten Jahr sind zwei neue Biografien geschrieben ... Über andere aus der Führungsriege des Nationalsozialismus, Martin Bormann oder Hermann Göring, gibt es so gut wie gar nichts. Woran liegt das?

Longerich: Es ist nicht so, als wenn wir an einem Überfluss von Biografien leiden würden. Die letzte Hitler-Biografie ist beispielsweise fast schon 15 Jahre alt. Es fehlt zum Beispiel auch eine Biografie von Hess, Sie nannten schon Bormann und Göring, wo durchaus Raum für größere Biografien wäre. Ich denke, es gibt eine gewisse Scheu nach wie vor bei Historikern, gerade bei deutschen Historikern, sich biografisch diesen Personen anzunähern, weil sie glauben, sie würden diese Person sozusagen, sie würden das ganze Dritte Reich sozusagen personalisieren auf eine vordergründige Art und Weise. Und das will man vermeiden.

Aber mir scheint, dass gerade der biografische Zugriff auf das Dritte Reich sehr wichtig ist, weil die Machtstrukturen so stark an Personen gebunden waren, dass Sie die Geschichte großer Teilbereiche der Diktatur eigentlich nur über Biografien erschließen können.

Pokatzky: Danke, Peter Longerich! Wir sprachen über die Biografie Joseph Goebbels, erschienen ist sie im Siedler Verlag mit 910 Seiten.