Nationalsozialismus

"Ich bezahle Steuern für diese Schweinehunde"

Die Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron
Die Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron © Picture Alliance / DPA / Britta Pedersen
Moderation: Gabi Wuttke · 06.01.2014
Die Deutschen zeigten heute wesentlich mehr Interesse und Empathie für das Schicksal der Juden als in früheren Generationen, meint Inge Deutschkron. Die Publizistin überlebte die Nazi-Zeit dank Otto Weidt, über den die ARD heute einen Film zeigt.
Gabi Wuttke: Was Oskar Schindler geleistet hat, das wurde durch einen Film weltweit bekannt. Das Erste Deutsche Fernsehen ist nicht Hollywood, aber heute Abend können Sie erfahren, wer Otto Weidt war, der in Berlin seit Anfang der 40er-Jahre eine Blindenwerkstatt betrieb und seine Angestellten vor den Nazis schützte, so gut er konnte.
Ohne die Hilfe von Inge Deutschkron wäre das Dokumentarspiel nicht, was es ist - schon Ende der 70er-Jahre schrieb sie über ihn, und um am authentischen Ort daran zu erinnern, was Otto Weidt auch für sie getan hat, gründete Inge Deutschkron den Verein "Blindes Vertrauen".

Frau Deutschkron, schön, dass Sie da sind, herzlich Willkommen! 1941 waren Sie 19 Jahre alt. Als Jüdin war Ihnen Büroarbeit verboten, aber Sie saßen an Otto Weidts Telefon. Wie lernten Sie ihn kennen? Warum fanden Sie dort Unterschlupf?
Inge Deutschkron: Das war der reine Zufall, und ich muss sagen, ich ging mit großem Zagen und Zaudern zu ihm, denn zu einem Nichtjuden zu gehen, war damals immer irgendwie gefährlich, wenn Sie so wollen, oder auch unangenehm. Aber er war sofort furchtbar freundlich zu mir.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Bundespräsident Joachim Gauck und Inge Deutschkron im Museum "Blindenwerkstatt Otto Weidt" in Berlin.© Picture Alliance / dpa / Guido Bergmann
Wuttke: Diese Blindenwerkstatt, die er gegründet hatte, nachdem er selbst blind geworden war - Auftraggeber war die Wehrmacht, er hat aber zum Beispiel auch Gestapo-Leute bestochen. Womit hat er sie gelockt? Was konnte er für Sie erreichen?
"Ein bisschen Parfum für die gnädige Frau?"
Deutschkron: Er hat das, was er von Karstadt bekam, als Bestechungsmittel benutzt. Gott sei Dank war die Gestapo sehr dämlich. Sie kamen zu uns, sie mussten sogar zu uns kommen, denn alle Werkstätten und Fabriken, wo Juden arbeiteten, mussten inspiziert werden von der Gestapo.
Und er ermutigte sie sogar zu kommen, das sollen sie sich mal angucken, was ich hier gemacht habe mit den Dreckjuden - er sprach dann genauso. Und ich muss dazu sagen, wir hatten unten am Eingang ein junges Mädchen, 16 Jahre alt, sie hieß Erika, die sah, dass Gestapo kam - die hatten ja immer diese grauen Ledermäntel an - und da klingelte sie - es gab eine interne Klingel -, wir hörten das oben bei uns im Sekretariat und stürmten aus dem Büro. Denn da durften wir ja nicht sein, nicht wahr. Und es wurden ein paar Arier dort hingesetzt, und die Gestapo kam und Otto Weidt führte sie also durch die Werkstatt, stellte sich vor einem jüdischen Arbeiter hin, sagte: "Das, was du da machst, das soll ein deutscher Handfeger sein?"

In dem Stil, nicht, so wie die Nazis. Und die waren furchtbar beeindruckt. Und am Schluss sagten sie das natürlich auch, und Otto Weidt pflegte zu sagen: "Ein bisschen Parfum für die gnädige Frau?" Und dann sagten die: "Um Gottes Willen, ich bin im Dienst, kann ich doch nicht annehmen." Aber sie nahmen es natürlich doch.
Wuttke: Otto Weidt war Pazifist. Er gilt als Anarchist. War er für Sie möglicherweise vielleicht auch nur ein Moralist im allerbesten Sinne?
Deutschkron: Nein, nein, das war echt. Also, ich meine, der hat es einer der ersten, der ihm erzählt hat. Er hat, als ich zu ihm kam das erste Mal, hat er mich so ausgehorcht über meine Familie und politisch ausgehorcht. Und als er hörte, mein Vater wäre sehr aktiv gewesen in der SPD gegen die Nazis und so, da merkte ich, es wurde vertraulich, nicht wahr. Und er sagte dann, ich selber bin zwar nicht Sozialist in dem Sinne, dass ich eingeschrieben bin in einer Partei, aber ich bin Pazifist, ich werde nie eine Waffe in die Hand nehmen.
"Er riskierte sein Leben"
Aber Pfiffigkeit war seine Art und Weise, wie er mit uns umging. Menschlich, nicht wahr - er nahm sich unserer Sorgen an. Wenn jemand Sorgen hatte, dann ging er zum Papa Weidt, wie wir ihn nannten, und sagten, was soll ich machen? Und dann dachte er darüber nach und versuchte zu helfen. Und manchmal klappte das auch. Das Ganze, was er gemacht hat, ist doch ungeheuerlich. Er riskierte sein Leben. Das ist doch nicht nur moralisch, das ist viel mehr, eigentlich. Das war fantastisch. Zum Beispiel, es kam eines Tages ein Wagen zu uns in den Hof, ohne, dass irgendeine Vorwarnung oder was war, und es stürzten zwei Gestapo-Beamte nach oben, brüllten, alle Blinden sich fertigmachen, sie werden abgeholt.

Ich werde das Bild nie vergessen, wie die sich gequält haben, ihre Sachen zusammenzusuchen und wie man sie runtertrieb. Und Otto Weidt war plötzlich nicht zu finden - wo ist er, wo ist er, um Gottes willen. Er war natürlich längst bei der Gestapo, tja, hat dort um seine Leute gekämpft. Er hat es uns nachher erzählt, er hat gesagt: "Wollen Sie mich ruinieren? Wovon soll ich denn leben, wenn die Werkstatt nicht mehr ist, Sie nehmen mir meine Arbeiter weg."
Und sie haben ihm erlaubt, seine Arbeiter aus dem Sammellager abzuholen. Und er ging mit ihnen die Straßen entlang wie in einem Demonstrationszug. Er vorneweg, stolzer Spanier, und hinter ihm die armen Blinden, zum Teil noch mit der Lederschürze und dem Judenstern dran. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wir waren wie die verrückten vor Freude. So wird es immer sein! Nie wird uns was passieren! Und dann kam er und sagte: "Kinder, ihr irrt euch. Die sind fest entschlossen, Berlin judenrein zu machen. Wir müssen jetzt ganz was anderes tun. Wir müssen Verstecke suchen." Das war es.
Wuttke: Das Engagement von Oskar Schindler wurde ja weltweit erst durch einen Film bekannt. Sie schreiben und erzählen seit weit mehr als 30 Jahren über Otto Weidt. Verstehen Sie den Film jetzt als Ernte Ihrer Arbeit?
Deutschkron: Nein, es hat sich was geändert in Deutschland. In den ersten Jahren unter dem Adenauerregime hat man sich nicht sehr viel um diese Menschen, diese Opfer gekümmert. Im Gegenteil, es wurde zugedeckt, verdrängt. Ich zitiere immer dazu aus dem Bundestag, wo Adenauer darüber spricht und sagt, aber das deutsche Volk war doch in seiner Mehrheit dagegen, dass man die Juden verfolgt. Und im Übrigen, sehr viele Deutsche haben ihnen doch geholfen.

Ach wissen Sie, da blutet einem das Herz, wenn jemand so etwas sagt, der es besser wissen musste, nicht wahr? Auf jeden Fall, es geschah nicht viel. Im Gegenteil, es geschahen solche Dinge, wie sie heute wieder geschehen.
Wuttke: Was ist denn aber heute anders?
"Die hätten längst verboten werden müssen"
Deutschkron: Anders ist, dass die Jugend anders ist, also zumindest die, die zu mir kommen in die Blindenwerkstatt, wo ich sehr viele Führungen mache für junge Menschen. Die wollen es wissen. Was ist da wirklich passiert? Und wie war das möglich? Vor allen Dingen diese sehr niedlichen zwischen zehn und zwölf, die stehen immer davor uns sagen, so richtig auf berlinisch: "Das kann doch nicht sein! Das war möglich?"
So in dem Stil, nicht wahr, man könnte sich totlachen, aber es ist sehr ernst gemeint. Und sie fragen wirklich - sie wollen ganz genau wissen, was man mit den Menschen gemacht hat. Und natürlich, die Älteren sind natürlich anders, ist klar, aber auch sie wollen wissen - es hat sich was geändert in dieser Hinsicht. Natürlich gibt es noch diese neuen Nazis, das ist ja das Schreckliche. Und da gebe ich jeder Regierung, die bis jetzt dran war, die Schuld. Die hätten längst verboten werden müssen. Und wenn es nur dazu ist, dass sie kein Geld mehr bekommen für ihre Aktivitäten. Steuergelder! Ich bezahle Steuern für diese Schweinehunde.

Na ja, also, das ist für mich nie zu verstehen, wie so vieles andere auch nicht. Aber die Zeit in der Adenauer-Regierung mit dem Herrn Globke, diesem Staatssekretär, der alle diese Leute, seine Leute, also Nazis, in hohe Positionen setzte. Sehen Sie, ich kam in Ministerien und stand vor einem hohen Nazi. Das war fürchterlich für mich. Wenn sie mir zu mir sagten: "Aber hören Sie mal, Sie müssen es doch vergessen, vergeben können." Also wissen Sie, ich hab meine ganze Familie verloren. Ich wundere mich heute noch, dass ich still geblieben bin.
Wuttke: Nun ist es trotzdem nicht die allerbeste Sendezeit, in der die ARD diesen Film über Otto Weidt zeigt. Glauben Sie denn, dass es nicht mehr Not tut, so vielen Menschen wie möglich die Geschichte von Otto Weidt zu erzählen?
Die Schriftstellerin Inge Deutschkron im Bundestag
Die Schriftstellerin Inge Deutschkron im Bundestag© picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Deutschkron: Und wie es Not tut - und wie! Das merke ich ja daran, an den Reaktionen auf der Straße. Wissen Sie, ich werde auf der Straße angesprochen, nachdem ich im Bundestag damals geredet habe. Und da fragen sie mich, und dann danken sie mir. Sie können sich gar nicht vorstellen. Es ist unglaublich, ich hätte das auch nicht für möglich gehalten.

Aber das ist ja schon fast eine frühe Zeit! Wir haben doch bisher immer, wann immer solche Themen dran waren, haben wir doch immer erlebt, dass die Sendezeit nachts um halb zwölf war. So war es doch. Also, dreiviertel zehn, ich bitte sie, das ist erstaunlich. So dankbar muss man sein.
Wuttke: Frau Deutschkron, ich danke Ihnen sehr, dass Sie hier zu Gast im Studio waren. Das Dokumentarspiel "Ein blinder Held. Die Liebe des Otto Weidt" ist heute ab 21 Uhr 45, wie gesagt, im Ersten zu sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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