Nahtod-Erfahrungen

An der Schwelle zur nächsten Dimension

Futuristischer Tunnel - am Ende scheint Licht durch eine Öffnung. Es ist eine Computergrafik.
In Nahtod-Erfahrungen wird oft vom Schweben durch einen Tunnel berichtet - das helle Licht könnte Gott sein © Imago / Science Photo Library
Von Dieter Bub · 10.01.2016
Wir können nicht wissen, was nach dem Tod kommt – das Paradies? Das Jüngste Gericht? Einfach nichts? Aber es gibt Menschen, die an der Schwelle zum Tod standen und ins Leben zurückgekehrt sind. Nahtod-Erfahrungen haben viel mit religiösen Vorstellungen zu tun, hat Dieter Bub herausgefunden.
"Bei meiner Nahtoderfahrung bin ich während der Operation aus meinem Körper ausgetreten. Ich hatte eine so genannte Vogelperspektive und konnte mich von oben auf dem Operationstisch liegen sehen. Ich konnte die Chirurgen wahrnehmen, was sie miteinander besprochen haben und sie haben sich auf liebevolle Art und Weise angeschnauzt, so nach dem Motto 'Hey mach mal schnell. Wir müssen die Kleine durchbringen. Die Kleine muss es schaffen.'"
"Die Kleine" schaffte es. Christine Stein war als Neunzehnjährige auf der Fahrt zu ihrem Praktikumsplatz in ihrem Wagen von einem LKW, der falsch geblinkt hatte, erfasst und begraben worden. Trotz schwerster Verletzungen überlebte sie. Als sie Wochen später nach erneutem Riss der Aorta zum zweiten Mal operiert werden musste, hatte sie eine Nahtoderfahrung, die ihr Leben verändern sollte.
"Ich fand mich plötzlich an einem wunderschönen Ort wieder"
"Und ich hab mich gleich an diesem wunderschönen Ort, den ich Himmel nenne, wiedergefunden und wurde dort von meinen Großeltern mütterlicherseits begrüßt, die ich zuvor noch nie hier auf der Erde gesehen hatte. Die beiden haben mich durch ihr Reich, wie sie es nannten, geführt und sie führten mich an einen Ort, wo ich nur hinunterschauen musste, der Boden schien wie aus Glas zu sein. Ich musste nur an eine Person oder bestimmte Personen denken, und genau auf diese konnte ich dann hinunterschauen."
Christine Stein hat ihre ungewöhnlichen Erlebnisse in einem Buch mit dem Titel "Like an Angel" beschrieben. Professor Roland Hetzer, der im Herzzentrum der Berliner Charité bereits in den siebziger Jahren die deutschlandweit ersten Transplantationen auch mit künstlichen Herzen durchführte, hat für die Erlebnisse von Christine Stein und anderen seine eigene Erklärung:
"Ich glaube, dass Menschen durchaus in der Lage sind in einer solchen Koma-Phase, solche Empfindungen zu haben, die aber nichts mit der Realität, sondern eher mit Träumen, tiefen Träumen zu tun haben."
Roland Hetzer hat bei seinen Transplantationen Patienten häufig über längere Zeit in einen todesähnlichen Zustand versetzt.
"Der Kreislaufstillstand, den wir künstlich herbeiführen bei bestimmten Operationen, was allerdings nur geht, indem man den Patienten insgesamt abkühlt auf 13 oder 15 Grad und dann kann man den Kreislauf und damit auch das Gehirn bis zu 50 / 60 Minuten abstellen. Und während dieser Zeit ist der Mensch de facto nach allen unseren Kriterien eigentlich tot."
Für den Gehirnforscher sind Nahtod-Erfahrungen reine Spekulationen
Auch der Bremer Gehirnforscher Gerhard Roth hält Nahtoderfahrungen für reine Spekulation und das, obgleich auch er mit 29 Jahren nach einem schweren Verkehrsunfall solche Visionen hatte.
"In dem Augenblick hatte ich ein intensives Wohlgefühl, schöner als ich es je vorher oder nachher hatte, und ich habe eine zweite Erfahrung gemacht: diesen Tunnelblick und am Ende des Tunnels ist ein Licht."
Der Naturwissenschaftler Roth erklärt dieses Erlebnis mit einem vorübergehenden Zustand, in dem der Körper nicht wirklich tot ist. Er führt seine Erscheinungen auf die Ausschüttung von Endorphinen mit ihren euphorischen Folgen und eine Unterversorgung der Retina, also der Netzhaut des Auges, zurück. An dieser Diagnose gibt es für ihn keinen Zweifel.
"Es sind immer Vermutungen, dass das Gehirn tot war, aber dass das Gehirn wirklich tot ist, ist nur mit Apparaten nachzuweisen und das ist in keinem der Fälle, von denen da berichtet wird, wirklich gemacht worden. Das sind nur Spekulationen. Das Herz hat offensichtlich aufgehört zu schlagen – auch das stimmt meist nicht. In vielen Fällen schlägt das Herz ganz langsam weiter. Die Sauerstoffversorgung ist nicht gleich Null."
In vielen, aber offensichtlich nicht in allen Fällen, wie Roth einräumt. Für seine These spricht, dass die Koma-Patienten von Roland Hetzer nach ihrer Zeit der Tiefkühlphase keinerlei Erinnerungen an den Koma-Zustand haben – bei ihnen war das Gehirn vorübergehend völlig "außer Betrieb".
Widerspruch kommt vom Arbeitsmediziner Sascha Plackov, der im Netzwerk "Nahtod" Erlebnisse von Patienten sammelt. Sie berichten übereinstimmend, sie hätten sich vor ihrer Rückkehr ins Leben außerhalb ihres Körpers bereits in einer anderen Welt befunden. Sascha Plackov:
"Entweder wird der menschliche Geist tatsächlich vom Gehirn hervorgebracht, oder er ist ein eigenständiger Teil, der im Körper wohnt, wenn man so möchte. Die Sprache, die man benutzt, die Semantik, sagt es ja schon. Niemand sagt: 'Ich bin mein Körper' sondern 'Ich habe einen Körper'. Ich kann diesen Körper von innen fühlen. Das heißt: Ich bin etwas anderes als mein Körper. Der Körper kann sich ja nicht selbst gehören, er kann sich nicht selbst fühlen."
Die Naturwissenschaften können nicht alles nachweisen
Sascha Plackov war als Naturwissenschaftler anfangs gegenüber den Berichten von Patienten mit so genannten NTE, Nahtod-Erfahrungen, skeptisch. Mittlerweile ist er fest davon überzeugt, dass sich hinter der Betrachtungsweise von Kollegen wie Hetzer und Roth mehr verbergen muss.
"Wenn das Herz eines Menschen stehenbleibt – spätestens nach 30 Sekunden, wenn das Gehirn abschaltet, kann er nicht über das Bewusstsein, das das Gehirn produziert, wahrgenommen haben. Das funktioniert nicht. Das kann er nur wahrgenommen haben, wenn da etwas existiert, was den Körper verlassen hat und das Geschehen von oben beobachtet. Ein Mensch kann dann nichts erleben, wenn das Gehirn abgeschaltet ist. Die Naturwissenschaft kann nur das nachweisen, was in diesen drei Dimensionen sich abspielt. Ich kann Schmerz mit nichts in dieser Welt nachweisen. Dann gibt es auch keine Liebe, die kann ich auch nicht wissenschaftlich nachweisen."
Aufgenommen am 13.04.2014 in Köln 
Die Juristin und Autorin Seyran Ates: Nach oben geschwebt, mit einem absoluten Glücksgefühl© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Für die türkisch–kurdische Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Buchautorin Seyran Ates, eine Muslimin, war ihre Nahtoderfahrung ein Gotteserlebnis, der Schritt in eine andere Dimension außerhalb unserer irdischen Welt.
Ates wurde 1984 während einer Beratung in der Lausitzer Straße in Kreuzberg von einem Attentäter niedergeschossen. Während ihre Klientin starb, konnte Ates trotz lebensgefährlicher Verletzungen gerettet werden. Es war für sie ein Wunder, begleitet durch ein Nahtoderlebnis.
"Auf der spirituell-religiösen Ebene war es so, dass ich, als ich angeschossen wurde, wie auf einem Thron saß und nach oben geschwebt bin. Ich bin nicht gefallen. Ich bin nach oben gestiegen und mich unten liegen gesehen. Und ich bin in ein absolutes Glücksgefühl geschwebt ins Licht. Und in diesem Glücksgefühl hätte ich bleiben können."
Seyran Ates hatte das Gefühl, auf der Schwelle zu stehen und vor die Wahl gestellt zu werden:
"Und dann kam die Frage, ob ich mitgehen will in dieses Glücksgefühl und ob ich meinem Leben ein Ende setze auf der Erde oder ob ich zurück gehen möchte. Und in Bruchteilen von Sekunden habe ich darum gebeten, dass ich zurückgehen darf."
War es Gott? Eine unbekannte, allumfassende Macht?
Seyran Ates kann sich bis heute nicht daran erinnern, mit wem sie in dieser Phase gesprochen hat. War es Gott? Eine unbekannte, allumfassende Macht?
"Mein Glaube hat sich verstärkt. Ich war vorher schon gläubig, aber nach dem Erlebnis war ich mir dann erst recht sicher, dass es eine große Hilfe gibt in meinem Leben neben mir – wie bei jedem anderen Menschen auch, dass Gott überall ist bei uns, bei jedem einzelnen."
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